Todesbrut
Versuch, Olivia zu küssen, abgeblitzt war, fragte sie jetzt im Vorbeigehen, ob sie das Ding im Gesicht habe, um ihre Zahnspange zu verstecken. So kam es, dass ein weinendes Mädchen mit Mundschutz neben ihrer hysterisch geschminkten Mutter einen Run auf die Apotheke auslöste. Wer keinen Mundschutz mehr ergattern konnte, griff zu einem Kopftuch. Sogar dicke Schals mussten herhalten.
Als Chris in ihrem kurzen Leinenkleid, mit den Flip-Flops an den Füßen, endlich ihren Milchkaffee bekam, war bereits eine Galerie halb vermummter Menschen an ihr vorbeigezogen. Sie trugen Hotpants, Sommershorts oder kurze Röcke, aber sahen trotzdem alle ein bisschen aus, als hätten sie vor, die Sparkasse zu überfallen.
Die Hand der Kellnerin ließ die Tasse auf dem Unterteller klappern. Zitterte sie? Milchschaum schwappte über. Die Tasse stand jetzt in einer weißen Lache.
»Entschuldigen Sie, ich bringe Ihnen sofort einen frischen Kaffee.«
Chris winkte ab. »Nein, lassen Sie nur, ist doch nichts passiert.«
Sie blickte auf die Uhr und überlegte, ob sie mit der Inselbahn Benjo entgegenfahren sollte, um ihn direkt bei der Fähre abzuholen, oder ob es besser war, hier entspannt zu warten. Vermutlich aber war die Fähre voll und das bedeutete, in der Bahn würde es eng werden. Sie entschied sich, lieber hierzubleiben.
Sie sah jetzt auf ihr Handy. Sie war ein SMS-Junkie. Wenn sie und Benjo getrennt waren, wechselten sie an einem Tag locker dreißig, vierzig Kurzmitteilungen. Es kam ihr so vor, als gäbe es zwischen ihnen ein nie abreißendes Kommunikationsband.
11 Da Altbundeskanzler Gerhard Schröder sich in seinem Ferienhaus auf Borkum aufhielt, waren die Sicherheitskräfte auf der Insel verstärkt worden. Eine von ihnen, Philipp Reine, war erst vor zwei Tagen aus New York zurückgekommen. Er lag jetzt in seinen durchgeschwitzten Bettlaken und fühlte sich, als hätte er die steuerfreie Gallone Whiskey allein getrunken. Er hatte den Kater seines Lebens, ohne vorher auch nur einen Tropfen Alkohol angerührt zu haben. Auf dem Tisch stand die volle Riesenflasche, mitgebracht für eine Party am Wochenende.
Als er schwerfällig aufstand, um sich im Badezimmer frisch zu machen, ahnte er plötzlich mit seltener Klarheit, dass er das Wochenende vielleicht gar nicht mehr erleben würde. Er versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Er empfand seinen Einsatz auf Borkum ohnehin schon als Strafversetzung. Warum sollte ein Altkanzler bewacht werden, auf den schon zu seinen aktiven Zeiten niemand einen Anschlag versucht hatte? Ja, die Insel war ein Ferienparadies, ohne jede Frage, gerne wollte er hier wieder herkommen und am Strand liegen. Aber die Polizeiarbeit war so langweilig wie eine Bushaltestelle in der Lüneburger Heide. Manchmal kam er sich vor, als würde er Farbe beim Trocknen zugucken. Dies war weder die Insel der randalierenden Komasäufer noch ein Ort für Mörder oder andere Schwerkriminelle. Wer etwas Ungesetzliches plante, entschied sich selten für eine Insel. Die Flucht war einfach schwierig. So eine Insel ließ sich leicht kontrollieren. Fähre oder Flugzeug … mehr Möglichkeiten gab es nun einmal nicht, um hin- oder zurückzukommen, da müsste ein Bankräuber schon ziemlich dämlich sein, um es genau hier zu wagen. Und ein Attentäter … Unsinn! Aber er, Philipp Reine, besaß hier noch die Ferienwohnung seiner Eltern und da zog man ihn gerne aus Hannover ab und schickte ihn hierher, wenn der Exkanzler kam.
Bei dem Versuch, Wasser aus dem Kran zu trinken, brach Philipp Reine zusammen.
12 Der NDR übertrug die Bilder zeitgleich mit RTL, SAT.1 und Pro 7. Das ZDF zog eine halbe Stunde später mit einer Sondersendung nach: Die Vogelgrippe in Norddeutschland!
Die Straßen nach Emden wurden kontrolliert. Tiere und Tierprodukte durften weder hinein- noch herausgebracht werden. Jedes Fahrzeug, das die Stadt verließ, musste durch eine Waschstraße und wurde desinfiziert, weil das Gesundheitsamt befürchtete, das Hühnergrippevirus könne durch Dreck an den Autoreifen ins ganze Land gebracht werden. Es waren gespenstische Fernsehbilder. Szenen, als seien Außerirdische gelandet. Schwerfällige Gestalten in weißen Schutzanzügen mit Astronautenhelmen hielten einen Golf-Cabrio mit offenem Verdeck an. Aus den großen Kenwood-Boxen dröhnte Bushido. Die Kamera hielt auf den Fahrer und seine Freundin; das verliebte Pärchen war völlig irritiert und wollte nicht gefilmt werden: »Weil ich doch eigentlich heute gar nicht
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