Todesbrut
du den Rest deines Lebens im Knast verbringen, du Vollhorst, du?!«, rief Corinna und hoffte auf ein Machtwort von Niklas Gärtner. Aber der stimmte seinem Sohn zu.
»Es ist vorbei«, sagte er ruhig. »Wir können nichts mehr ändern.«
»Oh nein. Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist!«, brüllte Eddy mit Tränen in den Augen. Er griff nach dem Gewehr, aber Ubbo Jansen landete seine rechte Gerade auf Eddys linker Gesichtshälfte und schickte ihn damit zu Boden.
Justin hob schützend die Arme vor sein Gesicht. Er rechnete ebenfalls mit Prügel.
Eddy erhob sich stöhnend und tastete sein Gesicht ab.
»Wer gehen will, kann gehen. Wer bleiben will, bleibt«, entschied Tim.
Eddy, Justin und Corinna rannten los.
»Schnell, bevor sie es sich anders überlegen«, hatte Eddy noch zu Thorsten gezischt, doch der blieb bei seinem Vater.
Niemand sprach im Büro, als draußen die Schüsse fielen.
Niklas und Thorsten Gärtner, Akki und Josy stürmten zu den Fenstern. Sie hörten Eddys Todesschrei, der selbst der Küstenseeschwalbe Angst machte.
Tim biss sich die Unterlippe blutig. Sein Vater nahm ihn in den Arm und drückte ihn fest an sich, wobei er sich auf den Schoß seines Sohnes setzte, zu ihm in den Rollstuhl.
Tim flüsterte seinem Vater ins Ohr: »Mama hat angerufen. Sie hat ein Mittel gegen das Virus. Eine Art Impfung. Niemand darf das erfahren. Es ist geheim. Sie will drei Impfungen abzweigen. Für dich und mich und für Kira.«
»Wir brauchen keine Impfung gegen die Hühnergrippe. Wir brauchen eine gegen menschliche Doofheit«, sagte Ubbo Jansen voller Überzeugung.
Von den Fenstern aus konnten sie nicht wirklich sehen, was unten in der Dunkelheit, durch die gelbe Rauchschwaden krochen wie träge Monster, geschah. Ab und zu blitzte Mündungsfeuer auf.
Jemand rief: »Sie greifen uns an!«
Ein anderer kommandierte: »Feuer frei!«
Eine Frauenstimme kreischte: »Das sind doch Kinder! Kinder sind das!«
Dann erklang ein mehrstimmiges: »Aufhören! Aufhören! Feuer einstellen!«
Justin erreichte keuchend das Büro. »Sie … sie haben meinen Bruder erschossen!«, stammelte er völlig verstört. »Und ich glaube, Corinna auch.«
Er sah aus, als ob er jeden Moment verrückt werden würde. Seine Haare standen ab. Er hatte etwas elektrisch Knisterndes an sich und erinnerte Tim an den geschmückten Tannenbaum, kurz bevor er ihn mit knapp neun Jahren angezündet hatte. Er hatte den Baum lichterloh brennen sehen, schon einige Sekunden bevor es so weit war.
97 Von der Promenade kamen Menschen zur Seehundbank gelaufen. Sie riefen aufgeregt etwas, doch der Nordseewind verschluckte ihre Worte.
Kai Rose hing im Stacheldraht und sein Sohn Dennis kreischte: »Mein Papa! Mein Papa!« Trotzdem baggerte Benjo weiterhin Sand auf den Jungen und klopfte ihn fest.
Es sah aus, als hätte er vor, das Kind lebendig zu begraben. Das hier hatte nichts von dem Spiel an sich, das Kinder und Väter täglich am Strand spielten. Hier wurde niemand aus Jux eingebuddelt.
Dennis bekam Sand in den Mund und spuckte. Sorgfältig hielt Benjo seinen Kopf frei und drückte den Sand an den Rändern gut fest.
Benjo fragte sich, ob der Sand so eine Kugel bremsen konnte. Er blickte nach oben zu den Cessnas. Wie tief musste man im Sand vergraben sein, damit eine Kugel einem nichts mehr anhaben konnte?
Margit Rose stürmte jetzt mit Viola auf dem Arm aus dem Wasser. Zunächst glaubte Benjo, sie würde zu ihrem Mann laufen, aber sie dachte gar nicht daran. Sie rannte zu ihm und ihrem Sohn.
Sie zeigte auf die Menschentraube, die von der Promenade über den Strand näher kam. Ein wilder Haufen. Sie sah die Lichtkegel mehrerer Taschenlampen und die Glutspitzen von Zigaretten.
»Wir müssen weg«, sagte sie. »Wir können uns hier nicht verteidigen. Die werden uns töten.«
Was sie sagte, klang gar nicht hysterisch, nicht einmal besonders aufgeregt. Die nasse Kleidung klebte an ihrem Körper und der Wind ließ sie zittern. Ihre Zähne klapperten aufeinander. Trotzdem ging von ihr eine grundsätzliche Ruhe aus wie von einer Frau, die mit dem Schlimmsten rechnet und die deshalb nichts mehr erschüttern kann, weil alles, was jetzt kommt, nichts ist gegen das, womit sie sich bereits innerlich abgefunden hat.
Ja, wenn es sein musste, war sie bereit, mit ihren Kindern zu sterben. Vielleicht würde ihr ja im Tod gelingen, was ihr im Leben ständig missglückt war – ihnen das Gefühl zu geben, sie sei immer und vorbehaltlos für sie da.
Aus einer
Weitere Kostenlose Bücher