Todesbrut
Cessna wurden Schüsse abgegeben, aber entweder hielt der Pilot die Maschine nicht ruhig oder der Schütze war ein blutiger Anfänger. Die Kugeln bohrten sich gut zwanzig Meter von ihnen entfernt in den nassen Sand.
Margit fürchtete mehr die anrückenden Menschen. »Lass uns mit den Kindern zurück ins Rettungsboot«, sagte sie zu Benjo.
»Und dann?«
»Dann wieder zur Fähre. Hier werden sie uns umbringen.«
»Zur Fähre? Gegen die Strömung? Das schaffen wir nicht. Außerdem – wir sind hierhergekommen, weil wir einen Arzt brauchen, und genau den holen wir uns auch.«
»Wie denn?«, wollte sie wissen.
Er hatte keine Ahnung.
Um nicht antworten zu müssen, wollte er zu Kai Rose hinüberlaufen und ihm helfen. Da pfiff ein Geschoss so nah an ihm vorbei, dass er den Luftzug spürte.
Dennis brüllte auf.
»Bist du getroffen? Hat dich eine Kugel erwischt?«
Der Junge antwortete nicht, er schrie nur. Benjo wollte ihn ausgraben, um nachzusehen, ob er verletzt war. Aber Dennis schüttelte den Kopf, er war nicht getroffen worden. Das Ganze war nur einfach zu viel für seine Nerven. Was ihn besonders fertigmachte, war, dass seine Schwester so reglos im Arm der Mutter hing.
Dann waren die ersten Touristen bei Kai Rose, und wenn Benjo sich nicht täuschte, befreiten sie ihn aus dem Stacheldraht.
»Die … die wollen uns nichts. Es sind keine durchgedrehten Verrückten. Das gibt es auch noch«, rief er freudig.
Margit Rose stellte sich breitbeinig schützend über den eingegrabenen Dennis.
Benjo lief zum Stacheldrahtzaun. Margit konnte über so viel Naivität nur den Kopf schütteln. Wurde Benjo aus Fehlern denn nicht klug? Gerade hatte er noch den Flieger mit freudigem Hurra begrüßt, bevor der erste Schuss fiel. Was musste noch passieren?
Jörg Bauer, der Mathematiklehrer aus Essen und Ostfrieslandfan seit vielen Jahren, war als Erster bei Kai Rose. Er hatte wie immer sein Schweizer Messer in der Tasche und er konnte damit umgehen. Ungeachtet jeder Ansteckungsgefahr trug er nicht einmal ein Tuch als Atemschutz vor Mund und Nase wie die meisten. Es kam ihm lächerlich vor und er wollte sich von der Seuchenphobie nicht anstecken lassen. Er lebte nach dem Grundsatz: Nichts ist so schlimm wie die Angst davor.
Er schnitt Kai Rose frei. »Warum schießen diese Irren auf Sie?«, fragte er. Die Antwort konnte er sich selbst geben, aber er fand sie so ungeheuerlich, dass er sie nicht glauben wollte.
Neben ihm fotografierte eine Frau die Cessna, aus der die Schüsse gefallen waren; Sarah Kielinger. Sie hoffte, mit den Bildern einen Beitrag dazu zu leisten, dass diesen Verbrechern bald der Prozess gemacht werden würde. Sie war Heilpraktikerin und überzeugt davon, dass Menschen nur dann krank werden konnten, wenn sie »offen für diese Erfahrung waren«. Seit sie vegetarisch lebte, einmal pro Woche in der Sauna schwitzte und täglich meditierte, war sie nie wieder krank geworden. Sie glaubte, durch ihre innere Ausgeglichenheit gegen jeden Angriff von Bakterien und Viren immun zu sein. Sie hatte es oft mit Patienten zu tun, die seelisch in einem völlig verwirrten oder desolaten Zustand waren, bevor eine Krankheit sie niederstreckte. Seitdem behandelte sie lieber die gekränkte Seele als den kranken Körper.
Zwei ihrer Freundinnen waren mit ihr auf Borkum. Jutta suchte einen Mann, der endlich zu ihr passte, Petra versuchte, zu einem Mann Abstand zu gewinnen, der eben genau nicht zu ihr gepasst hatte, aber sieben Jahre mit ihr verheiratet gewesen war. Petra half, Kai Roses Beine hochzuhalten, damit sein Kreislauf sich stabilisieren konnte, während Sarah Kielinger seine Schnittwunden untersuchte.
»Er hat keine lebensgefährlichen Verletzungen«, stellte sie fest, um erst einmal beruhigend auf die nervösen Menschen einzuwirken.
98 Als die Bürgermeisterin zum zweiten Mal anrief, konnte Linda sie nicht mit Dr. Maiwald verbinden. Er lag ohnmächtig in seinem Bett. Auf seinem Laken schmolz Erdbeereis. Er war nicht ansprechbar, sein Fieber war auf 40,9 gestiegen.
Linda weinte, als sie eine Kollegin zu Hilfe rief. Er ist der Mann meines Lebens, dachte sie. Warum habe ich ihn nie gefragt und warum hat er es bei mir nie gewagt? Plötzlich kam ihr das eigene Leben vor wie eine endlose Reihe verpasster Züge.
Sie wusste eines: Wenn das hier gut ausgehen sollte, also wenn sie und er das alles hier wider Erwarten überstanden, dann würde sie ihr weiteres Leben nicht nur irgendwie durchstehen, sondern richtig leben.
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