Todesbrut
Keine verpassten Gelegenheiten, keine geplatzten Möglichkeiten. Sie wollte endlich leben! Richtig leben! Am liebsten mit ihm und täglich Marzipanteilchen mit ihm essen, ohne auf ihr Gewicht zu achten.
Sie beugte sich über ihn, schloss die Augen und stellte sich vor, ihn zu küssen.
99 Doris Becker verließ den Learjet. Sie kümmerte sich nicht um Jens Hagen, der jetzt seinem Heißhunger nachgab. Er sammelte Schokoriegel und Kekse auf und stopfte sich den Mund voll. Noch nie im Leben hatte er mit solcher Gier gegessen. Er schluckte, praktisch ohne zu kauen. Er kniete auf dem Boden und suchte unter einem Sitz ein Karamellbonbon.
Doris Becker war viel zu aufgeregt, um Holger Hartmann zu bemerken. Er hielt die Waffe auf sie gerichtet und brüllte sie an, als sie auf den Hangar zuging, ohne ihn zu beachten.
»Halt! Stehen bleiben! Gehen Sie in das Flugzeug zurück! Ich brauche Sie als Pilotin!«
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, sagte Doris Becker: »Lecken Sie mich am Arsch.«
Holger Hartmann trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Seine Finger waren feucht. Es war nicht leicht, mit den schwitzigen Händen das Gewehr zu halten. Er verstand nicht, wo die Insassen waren. Er hatte Heinz Cremer oder einen anderen Mitstreiter in der Maschine vermutet. Er konnte sich nicht erklären, warum der Jet schon zurückgekommen war. Etwas stimmte nicht, das spürte er genau. Es lag an dem Gang von Doris Becker, an ihrer Art, wie sie die Maschine verlassen hatte, und jetzt dieser freche Satz. Er hatte keinen Handykontakt mehr zu Heinz Cremer und das machte ihn nervöser als die Tatsache, dass er gerade einen Mann erschossen hatte.
Dann sah er Jens Hagen aus dem Flugzeug steigen. Der kaute auf irgendetwas herum oder er flüsterte in ein Headset, so genau konnte Hartmann das bei den schwierigen Lichtverhältnissen nicht erkennen.
Dieser Polizist war auf ihrer Seite, aber eben trotzdem ein Polizist. Hartmann mochte die Staatsgewalt nicht, zu oft hatte er Ärger mit ihr gehabt. Nie war die Polizei in seinem Interesse eingeschritten, oft aber gegen ihn vorgegangen. Man wusste bei Uniformierten nie so genau. Jens Hagen und sein Kumpel Oskar Griesleuchter hatten ihn auf der Bismarckstraße verhaftet, weil er angeblich in der »Kajüte« randaliert hatte. Es war erst zwei Tage her, aber es kam ihm vor wie eine Erinnerung an ein anderes Leben. Was also sollte er von Jens Hagen halten? Auf wessen Seite stand der Polizist wirklich?
Immerhin hatte er, Holger Hartmann, gerade im Hangar einen Mann niedergeschossen. Konnte er sich da auf einen Bullen verlassen, fragte er sich.
»Ich gehöre zu den Verteidigern der Insel. Wir … wir müssen die Bevölkerung schützen. Wir brauchen jetzt jedes Flugzeug, um die Küste zu bewachen, damit dieser Horror nicht nach Borkum eingeschleppt wird.«
Für Holger Hartmann war das eine lange Rede gewesen. Er staunte, wie rasch und klar ihm die Worte über die Lippen kamen. Vielleicht war er deshalb im Leben so oft stumm gewesen, weil er keine Sache hatte, für die es sich zu streiten lohnte. Meist waren die anderen Menschen ihm wortgewandter, klüger und gebildeter vorgekommen. Argumentieren und diskutieren war nie seine Stärke gewesen.
Jetzt verlieh das Gewehr seinen Argumenten Durchsetzungskraft. Er stellte sich Doris Becker in den Weg.
Doch Doris Becker war nicht beeindruckt. »Lassen Sie mich in Frieden!«, fuhr sie ihn an. »Einer Ihrer Rädelsführer hat gerade aus meinem Flugzeug auf Menschen am Strand geschossen!«
Holger Hartmann kombinierte alles, was er wusste, zu einer Information. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Jens Hagen geschossen hatte. Der war ein Weichei, das sah jeder. Wer war der Schütze? So etwas wie ein Rest Intuition sagte ihm, dass Heinz Cremer in der Maschine gewesen war. Warum ging der nicht mehr ans Handy? Was war geschehen?
Er spielte nervös mit seinem Gewehr. Die Pilotin hatte das Wort »Rädelsführer« gebraucht. Holger Hartmann wurde es heiß und kalt. Er hatte das Gefühl, sich am Rand eines Abgrunds zu befinden. Ein falscher Schritt konnte das Ende bedeuten.
Doris Becker hob beide Arme: »Na los! Schießen Sie schon! Ich werde Ihnen jedenfalls nicht dabei helfen, andere Menschen umzubringen!«
Holger Hartmanns Hände umklammerten jetzt das Gewehr wie einen Rettungsring.
Doris Becker zeigte mit ausgestrecktem Arm in Richtung Promenade: »Wenn Sie dort Krieg führen wollen, bitte schön, dann tun Sie es. Aber ohne mich. Selbst wenn Sie eine
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