Todesbrut
trotzdem und weinte am anderen Tag.
Er wusste, dass sie sehr krank war und deshalb schließlich in eine Klinik kam, in der sie ohne ihn und Viola und Papa darum kämpfte, gesund zu werden. Er wollte, dass seine Mama ein besseres Leben führen konnte, keins, das sie krank machte. Deshalb hatten er und Viola sich etwas überlegt: Es war besser für Mama, nicht zu ihnen zurückzukommen. Dennis hatte genau gehört, dass Mama nur aus Pflichtgefühl bei ihnen geblieben war, und weil sie alles so unerträglich fand, hatte sie ihren Kummer in Alkohol ertränkt.
Ja, so hatte Sue vom Jugendamt es gesagt, an dem Abend, als sie Papa geküsst hatte. Er und Viola hatten gelauscht, Viola war an der Tür eingeschlafen. Er hatte sie leise ins Bett gebracht und war wieder zur Tür zurückgekrochen, um noch mehr zu hören. Sue hatte gesagt, dass sie gar nicht verstehen könne, warum eine Frau mit solch einem tollen Mann nicht glücklich werden würde, und sie selbst hätte nicht so viel Glück wie Mama gehabt. Ihr Freund wäre lange nicht so ein guter Papa.
Und wieder fand Dennis Bestätigung für seine Schuldgefühle. An seinem Vater konnte es nicht liegen, der war ein toller Mann, und Viola war noch so klein und soooo süß. Es war alles seine Schuld. Seine. Und jetzt … hier auf dem Schiff, schon wieder.
Noch einmal fragte sein Vater ihn, ob er es begriffen hätte.
»Ja«, sagte Dennis. »Ja, Papa.«
»Wenn dich einer fragt, du hast Heuschnupfen. Heuschnupfen. Kannst du dir das merken?«
»Ja, Papa.«
»Was ist Heuschnupfen?«, fragte Viola.
In dem Moment ging die Toilettenspülung in der anderen Kabine. Kai zuckte erschrocken zusammen und packte Dennis hart am Arm. Er schob ihn in Richtung Tür. Viola lief hinterher.
Draußen standen die Menschen dicht gedrängt. Eine aufgeregte, schwitzende Masse, die Dennis Angst machte. Diese Augen, die ihn so bohrend ansahen. Sie gaben ihm die Schuld. Alle die Leute hier.
»Wir müssen das Kind isolieren«, sagte jemand. Dennis wusste nicht, was das Wort bedeutete, aber es hörte sich bedrohlich an.
Er sah seine Mutter in der Menge. Sie war blass und neben ihr stand dieser Benjo, mit dem sie Kaffee getrunken hatte. Der sollte ja nicht glauben, dass er sein neuer Papa werden könnte. Er und Viola, sie würden beide bei Papa bleiben.
Seine Mutter wollte etwas sagen, aber da riss hinter Kai und den Kindern jemand die Tür auf und brüllte: »Ich habe es genau gehört! Er hat dem Kind eingeschärft, es sei nicht krank! Der Junge soll uns etwas vorlügen. Von wegen Heuschnupfen! Der Junge trägt das verdammte Virus in sich. Seid vorsichtig, das Zeug breitet sich durch die Luft aus, wie bei einem ganz normalen Schnupfen!«
»Nein, Sie … Sie haben das alles falsch verstanden, ich … Ich wollte doch nur …«, stammelte Kai Rose. Er suchte eine Ausrede.
Margit hatte ihn oft in peinliche Situationen gebracht. Viel zu lange hatte er ihr Fehlverhalten durch Lügen ausgeglichen. Es geht ihr nicht gut – sie muss etwas Schlechtes gegessen haben …
Er hatte sich so sehr daran gewöhnt zu lügen, dass er manchmal gar nicht wusste, wem er was erzählt hatte, und begann, sich in seinem eigenen Lügengeflecht zu verstricken. Lügen erleichterten das Leben ungemein. Zunächst jedenfalls. Aber jetzt halfen Lügen nicht weiter. Er versuchte es mit der Wahrheit.
»Ja, der Junge hat Fieber. Aber das kann eine ganz normale Grippe sein, eine Erkältung oder …«
»Oder die Hühnergrippe! Die da draußen auf Borkum haben es ja mitbekommen, dass ein krankes Kind an Bord ist!«, sagte der Steuerfachanwalt bissig.
»Aber das ist doch Blödsinn. Der Junge hat nur geniest, wieso soll das so schlimm …«
»Sie haben versucht, die Krankheit zu verheimlichen! Das ist unverantwortlich! Sie spielen mit unser aller Leben!«, brüllte der Mann, der ihnen aus der Toilette nachgekommen war. Er hatte viel Ähnlichkeit mit Brad Pitt. Er war nur dreißig Kilo schwerer und irgendwann hatte ihm jemand die Nase gebrochen. Sie war platt und schief. Das gab ihm ein gewisses verwegenes Boxeraussehen. Da er Pittkowski hieß, wurde er von vielen Pitt genannt.
Fast ein Glück, dachte Margit, dass es Dennis getroffen hat und nicht Viola. Kai hat immer ein besseres Verhältnis zu Dennis gehabt: Er bevorzugt ihn, und Viola muss immer hintanstehen. Wahrscheinlich ist er sich nicht sicher, ob Viola wirklich von ihm ist.
Als Viola geboren wurde, hatte sie noch nicht die Kontrolle über den Alkohol verloren, wohl aber
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