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Todesbrut

Todesbrut

Titel: Todesbrut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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die Luftwirbel waren immens.
    Die Menschen auf den Außendecks duckten sich und hielten sich die Ohren zu. Selbst im Speiseraum zuckte alles zusammen. Es hörte sich an, als könnte eine Maschine in den Schiffsrumpf krachen wie ein Torpedo.
    Frau Symanowski kreischte. Sie konnte nichts dagegen tun. Sie wollte nicht schreien, aber es passierte einfach. Das Geschehen erinnerte sie an ihre schlimmsten Albträume, doch selbst im Krieg hatte sie nie einen Bomber aus solcher Nähe gesehen. Diese Kampfjets schienen greifbar zu sein und sie wirkten wie mutierte Rieseninsekten aus Stahl.
    Die Maschinen drehten ab und flogen in Richtung Niederlande davon, aber dann auf einmal kehrten sie um und bewegten sich erneut auf die Fähre zu. Die alte Frau Symanowski begann zu beten, wie sie damals als Kind im Bunker gebetet hatte, laut und voller Inbrunst: »Heilige Maria, Mutter Gottes, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, amen. Heilige Maria, Mutter Gottes, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, amen. Bitte verlass uns nicht …«
    Einige umstehende Menschen beteten laut mit. Ein Mann im Fußball-T-Shirt vom FC Sankt Pauli fiel sogar auf die Knie und faltete die Hände, doch die Kampfjets schienen der Gebete zu spotten und kamen trotzdem unaufhaltsam näher.
    Charlie schwenkte sein Papiertaschentuch wie eine weiße Fahne. Dabei liefen Tränen über seine Wangen. Er bemerkte nicht, dass er weinte, er spürte seinen Tod nahen und er wollte nicht so sterben. Wenn er die Augen schloss, sah er die Fähre brennen. Nachrichtenbilder von fernen Kriegsschauplätzen schossen aus seiner Erinnerung hoch. Fernsehbilder. Er wusste nicht, wie viel er davon abgespeichert hatte. Er war kein Kriegsfilme-Gucker. Eher im Gegenteil, ihn als Kriegsdienstverweigerer hatten Filme angewidert, die so taten, als seien sie Antikriegsfilme, aber in Wirklichkeit genau aus dem, was sie zu bekämpfen vorgaben, ihre filmische Faszination holten. Er bezeichnete Filme wie »Pearl Harbor« als verlogenen »Hollywood-Dreck«, er hatte diesen »Antikriegsfilm« wütend verlassen – und vorher sein Popcorn gegen die Leinwand geschleudert. Irgendwie kam es ihm jetzt so vor, als hätte er immer schon gewusst, dass er einmal in einem Flammenmeer sterben würde. In einem Bombardement.
    Kurz bevor die Maschinen mit ihren Flügeln das Schiff zu berühren schienen, schloss Charlie die Augen und wartete auf den Knall, aber der kam nicht. Stattdessen wurden die Gebete lauter und auch einige Flüche mischten sich in das Stimmengewirr, während das Dröhnen der Motoren sich in der Ferne verflüchtigte. Keine Bomben, kein Kampf …
    Aber ein Kampf fand jetzt unter Deck statt.
    Kai Rose war mit seinem Sohn Dennis und seiner Tochter Viola in die Herrentoilette gegangen. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, Viola allein vor der Tür stehen zu lassen. Sie war verunsichert und weinte still.
    Dennis wirkte jetzt wirklich krank. Sein Vater wusch ihm das Gesicht und ließ ihn kräftig in ein Papiertaschentuch schnäuzen. Dennis klagte über Schmerzen in den Gelenken. Kai Rose schärfte ihm ein, er dürfe das auf keinen Fall jemandem sagen. »Später«, so versprach er, »gehen wir zum Arzt und alles wird gut. Aber jetzt musst du so tun, als ob du gesund wärst, hast du das begriffen, Dennis?«
    Dennis verstand es nicht, aber ihm war durch die Art, wie sein Vater es sagte, und durch die Ereignisse der letzten Minuten, die Blicke der Menschen und wie sie plötzlich alle Abstand von ihm hielten, klar, dass etwas Schlimmes, Furchterregendes vor sich ging. Er fühlte sich irgendwie schuldig daran. Ein altes Gefühl … Schon immer hatte er sich schuldig gefühlt, wenn Mama trank. Im Grunde glaubte er, sie würde nur zur Flasche greifen, weil er so ein schlechter Junge war und sie enttäuscht hatte. Immer, immer wieder hatte er versucht, alles so zu regeln, dass seine Mutter am Ende nicht wieder halb bewusstlos durch die Wohnung taumelte. Er hatte sein Zimmer aufgeräumt, auf seine Schwester aufgepasst, seine Sachen nicht schmutzig gemacht, keine Widerworte gegeben, nie gequengelt und immer war er in der Schule fleißig, aber sie trank

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