Todesbrut
Carlo Rosin. Er stellte den Ton auf maximale Lautstärke. Er überlegte, was er tun sollte. War es klug, jetzt mit dieser Information in die Feier zu platzen? Einerseits machte Carlo keine gute Figur, ließ mit sich umspringen wie ein Schuljunge. Andererseits war er jetzt plötzlich durch einen Zufall berühmt geworden. Ein Typ, dessen Bild auf n-tv zu sehen war.
André Müller spürte die Eifersucht wie ein vergiftetes Essen im Magen. Unverdaulich, Krankheit bringend, Fieber erzeugend.
Er selbst war mit seinen Strafprozessen über die Lokalzeitung nie hinausgekommen. Einmal hätte er es fast geschafft, in der Sendung »19.30« im NDR erwähnt zu werden. Fast. Aber dann war der ganze Bericht über einen Sexualstraftäter, den er verteidigt hatte, zugunsten eines Kriminalschriftstellers gecancelt worden, der über solche Fälle einen Roman geschrieben hatte.
Und jetzt war Carlo, der Kleingeist und Sesselpupser, in den breaking news auf n-tv. Er sah ihn schon in Talkshows über seine Erfahrungen berichten. Nein, er hatte nicht vor, Carlo zum beherrschenden Thema der Feier werden zu lassen. Das wäre ja noch schöner! Er zog sich den ganzen Familienmist hier wie selbstverständlich rein, als hätte er nichts Besseres zu tun, und dann drehte sich alles um Carlo, der nicht mal anwesend war. Nein. Er würde das Gesehene einfach verschweigen.
Seine Frau himmelte diesen warmduschenden Frauenversteher sowieso viel zu sehr an. Wenn er, André, nach einem anstrengenden Tag mit seiner Frau schlafen wollte, musste er sich Sätze anhören wie: »Das ist mir jetzt zu unromantisch. Ich kann das nicht einfach so aus dem Stand. Meine Schwester hat gesagt, Carlo arrangiert zuvor Blumen und Kerzen und Duftöl im Zimmer. Sie haben gemeinsam einen Massagekurs gemacht und bringen sich gegenseitig langsam in Stimmung …«
Er fragte sich, was seine Frau ihrer Schwester Elfi so über ihr Intimleben erzählte. Nun, viel gab es gar nicht zu berichten. Vielleicht grinste Carlo deshalb manchmal so frech.
Zwar beneidete er im Grunde immer noch seinen Studienkollegen Heiner, der sich auf Scheidungsrecht spezialisiert hatte und pro Woche mindestens eine enttäuschte Ehefrau tröstete, sich gut dafür bezahlen ließ und einen profitablen Kreuzzug gegen ihren Ex begann, doch er selbst hatte inzwischen einige Klientinnen aus dem Rotlichtmilieu. Er ließ sich gern mit sexuellen Dienstleistungen bezahlen. Die Mädels wussten, was sie taten. Der Vorteil für ihn war, keine hängte sich an ihn. Er musste nicht nachts lange am Telefon den Seelentröster spielen. Keine wollte ihn heiraten, keine wollte ihn ihren Eltern vorstellen. Er bekam, was er wollte. Schnellen Sex ohne viel Gequatsche und Hokuspokus drum herum. Also genau das, was seine Sandra ablehnte. Aber natürlich würde er niemals darüber reden, schon mal gar nicht mit seinen Schwägern. Die warteten doch nur auf eine Gelegenheit, ihm eins auszuwischen, weil sie sich ihm unterlegen fühlten.
Ich hätte mir Zugang zu der Geflügelfarm verschafft, dachte er. Du bist kein richtiger Mann, Carlo. Ein Weichei bist du. Ein Gefühlsduselant.
19 Holger Hartmann, im durchgeschwitzten Feinrippunterhemd, mit den dicken Haarbüscheln unter den Achseln, schwankte zwischen Triumphgefühl und einer existenziellen Trauer. Beides brachte den Raufbold dazu, seinen Golfschläger wütend gegen eine Dalbe zu schmettern. »Das wollte ich nicht«, schrie er. »Das wollte ich wirklich nicht!«
Die Ostfriesland III hatte den Anlegehafen verlassen und war auf dem Meer nur noch so groß, dass er sie hinter seiner Handfläche verschwinden lassen konnte. Sie hatten gesiegt, gesiegt, gesiegt! Aber es herrschte Entsetzen. Das Geräusch, mit dem die Knochen im Körper von Lars Kleinschnittger zerbrachen, bevor er selbst aufplatzte wie eine reife Melone, die auf den Steinboden fiel, würde keiner der Anwesenden jemals wieder vergessen. Aus diesem Geräusch würde schon heute Nacht die Musik ihrer Albträume komponiert werden.
Heinz Cremer, der Architekt aus Düsseldorf, hatte Angst, ihm könne später die Schuld am Tod von Kleinschnittger gegeben werden, denn er war hier so etwas wie der Rädelsführer. Er suchte Kontakt zu dem Polizisten Jens Hagen, aber der tat ihm nicht den Gefallen, ihn zu entlasten. Hagen fühlte sich selbst so sehr schuldig, dass er – um es überhaupt aushalten zu können – einen anderen als klar identifizierten Schuldigen brauchte. Er brüllte Heinz Cremer an: »Der ist tot, tot tot!
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