Todesbrut
fernes Beben ankündigte. Sie wehrte sich dagegen. Sie schüttelte sich vor ihren eigenen Gedanken. »Das ist keine Zukunftsvision!«, sagte sie sich. Sie merkte nicht, dass sie laut gesprochen hatte. Benjamin Koch blickte sie an. Sie schien zu frieren. Viola schnappte um sich wie ein kleiner zorniger Kläffer. Die Menschen wichen ihr aus.
Der dicke Brad und der Steueranwalt hatten sich mit Stühlen bewaffnet, um Kai und die Kinder in die Toiletten zurückzudrängen, aber keiner von ihnen wollte ein kleines Mädchen verletzen.
Der Kellner machte einen Versuch, die Kleine zu packen. Im letzten Moment jedoch zuckte er vor den Konsequenzen zurück. Er wollte sie nicht anfassen, er wollte nicht einmal die gleiche Luft atmen wie sie. Das spürte Viola genau, es gab ihr bisher ungekannten Mut und öffnete eine Quelle unbändiger Kraft. Sie würde ihren großen Bruder verteidigen und allen zeigen, dass sie noch eine Familie waren, die zusammenhielt.
Sie erwischte die rechte Hand des Kellners und grub ihre Zähne in seinen Zeigefinger. Er kreischte und hinter ihm in der Menge lachte jemand wie Jack Nicholson in »Shining«. Krank und völlig irre.
Der Kellner drehte sich gebückt um die eigene Achse, dabei schleuderte er das Kind durch die Luft. Sie hatte sich in seinen Finger verbissen wie ein Pitbull-Terrier. Ungläubig betrachteten die Umstehenden die Szene.
Margit Rose schrie: »Viola! Viola!«
Wieder versuchte der Kellner, das Mädchen abzuschütteln. Es gelang ihm nicht. Margit Rose wollte ihrer Tochter zu Hilfe kommen, stolperte aber, weil ihr jemand ein Bein stellte, und ging zu Boden.
Leichenblass kreischte der Kellner: »Sie hat mich gebissen! Gebissen!«, aber damit teilte er niemandem eine Neuigkeit mit.
Kai Rose war wie gelähmt. Es war nicht ganz klar, ob er sich an Dennis festhielt oder Dennis sich an ihm.
Mit aller Macht stieß der Kellner Viola von sich. Einige Menschen stöhnten aufgeschreckt, weil es aussah, als würde er dem kleinen Kind einen Faustschlag gegen die Brust verpassen. Da war plötzlich ein nie gehörtes, völlig unbekanntes Geräusch, als würde eine unreife Melone in Stücke gerissen oder ein rohes Stück Fleisch zerfetzt.
Die Wucht des Schlages hob Viola vom Boden und ließ sie ein Stück durch die Luft fliegen. Ihre Zähne steckten noch immer in dem Finger des Kellners, als ob sie zu seinem Körper gehörte.
Margit Rose erlebte die Szene wie in Zeitlupe aus der Froschperspektive. Jemand trat ihr versehentlich auf die Hand, aber sie spürte den Schmerz nicht. Ihr war nur das Bein im Weg. Sie verrenkte den Kopf und sah jetzt, wie ihre Tochter mit dem Rücken gegen die Schiffswand krachte.
Etwas fiel Viola aus dem Mund. Einen Augenblick schien sie neben dem Bullauge zu kleben, dann rutschte sie ganz langsam an der Wand nach unten.
Sie öffnete die Lippen und ein blutiges Loch tat sich auf. Darin blitzten einige hellweiße, von keinerlei Karies befallene Zähne. Es waren gute Zähne, von einem braven Mädchen bestens gepflegt, sie wurden zweimal am Tag mit einer elektrischen Kinderzahnbürste geputzt. Morgens und abends.
Blutstropfen auf dem Boden markierten Violas Flugspur wie eine rote Linie von detonierten Bomben.
»Mein Finger!«, schrie der Kellner. »Sie hat mir den Finger abgebissen!«
Er taumelte. Nur seine Wut über das Unfassbare hinderte ihn daran, in Ohnmacht zu fallen. Es war nicht sein ganzer Zeigefinger. Nur der erste Knöchel war abgetrennt worden. Doch als der Wellengang das Schiff zur Seite neigte und das abgebissene Fingerglied, eine Blutspur hinterlassend, auf die Menschentraube hinter dem Steueranwalt zurollte, stob die Menge auseinander, als ob ein wildes Tier sie angreifen würde.
Eine Kinderstimme schrie: »Iiiiiih!«
Die Angst, von dem Fingerstück berührt zu werden, war größer als die Hilfsbereitschaft Viola oder dem Kellner gegenüber.
Der Fingernagel reflektierte Licht. Das menschliche Stück Fleisch zuckte.
»Sie hat ihn mit ihrem Biss angesteckt«, stellte Brad fest.
»Blödsinn!«, rief Henning Schumann, »Sie gucken zu viele Vampirfilme.«
Kai Rose wich mit Dennis vor den drohenden Stuhlbeinen zurück. Helmut Schwann stieß den Stuhl immer wieder in Kais Richtung. Jedes Mal, wenn Kai einen Schritt rückwärtsging, setzte er nach. Er spürte plötzlich mit diesem Stuhl als Waffe, dass er immer noch eine Kämpfernatur war. Der Büroalltag hatte ihn nur scheinbar domestiziert. In Wirklichkeit war er der wilde Kerl geblieben, der er als
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