Todesbrut
stimmte Henning Schumann zu. »Sie haben ganz recht, da draußen ist gerade ein Mann gestorben. Aber ihn hat kein Virus umgebracht. Er starb an der unkontrollierten Hysterie. An unserer Angst.«
»Es war ein Unfall!«, rief eine Fistelstimme.
»Mir egal. Ich werde jedenfalls keine Toilette benutzen, auf der die vorher waren.« Der Kellner zeigte auf Kai Rose und dessen Sohn Dennis. »Wir haben nicht genügend Desinfektionsmöglichkeiten, um den ganzen Mist …«
»Genau!«, rief der dicke Brad und wandte sich an Kai Rose. »Und deshalb müsst ihr vernünftig sein.«
»Was soll das bedeuten? Vernünftig sein?«, fragte Kai vorsichtig nach. Er ahnte Schlimmes.
Der Kellner versuchte, es in nette Worte zu kleiden. »Wir sind in zwei, höchstens zweieinhalb Stunden wieder in Emden. Dort werden wir garantiert von einem Ärzteteam erwartet. Die werden Ihnen helfen. Bis dahin schlage ich vor, dass Sie und Ihre Kinder sich fernhalten von den anderen hier auf der Fähre. Gehen Sie einfach in Ihr Auto und warten Sie dort ab.«
Einige der Umstehenden nickten erleichtert. Die Lösung schien ganz einfach, doch die Seifenblase der Hoffnung zerplatzte, als Kai Rose antwortete: »Wir sind nicht mit dem Auto gekommen, sondern mit dem Zug.«
Der Kellner sah sich hektisch um. Niemand stand so nah bei Kai Rose und seinem Sohn wie er. Er machte einen Schritt zurück und schützte Mund und Nase mit der Hand.
»Wer stellt der Familie sein Auto zur Verfügung?«
Bis auf das Ehepaar Luther befanden sich alle Fahrzeugbesitzer schon in ihren Wagen. Die beiden kamen erst jetzt auf die Idee.
»Ich bin doch nicht verrückt. Der Wagen ist brandneu. Wer ersetzt mir die Kosten? Die Reinigung und alles, und außerdem, wer weiß, wie lange sich diese Krankheitsbrut darin hält. Oh nein, nicht mit mir, das kann keiner von uns verlangen«, rief Herr Luther. Er drängelte sich mit seiner Frau durch die Menschentraube an der Treppe zu seinem metallicblauen BMW.
Der Kellner hatte schon eine neue Lösung: »Dann halten Sie sich eben in den Toilettenräumen auf und verlassen die erst, wenn …«
Kai Rose zeigte dem Kellner doof.
Viola hielt es nicht länger aus. Sie riss sich von ihrer Mutter los und stürmte genauso schreiend zu Dennis zurück, wie sie vorher zu ihr gerannt war. Es sah aus, als wollte sie Dennis beschützen. Wie ein bissiger Engel zeigte sie ihre Zähne und fauchte. Margit Rose kam sich dumm vor, als hätte sie eine Chance vertan und ihre Tochter viel zu schnell wieder losgelassen.
»Wir geben jetzt allen, die sich krank fühlen, die Gelegenheit, sich in die Toilettenräume für Herren zurückzuziehen. Sie werden dort mit Getränken und kleinen Snacks versorgt.«
»Ja danke!«, lachte Kai Rose bitter.
»Und wo gehen wir dann hin, wenn wir mal müssen?«, fragte ein besorgter Mann um die vierzig.
»Zur Damentoilette!«, freute sich ein Punk aus Braunschweig.
»Aber die Damentoiletten sind doch immer überfüllt …«, gab eine Mittfünfzigerin zu bedenken und schämte sich gleich für ihre Worte. Sie sah zur Decke, als hätte sie nichts gesagt.
Der Kellner hob abwehrend die Hände. »Ich kann Sie beruhigen. Wir haben mehr als nur eine Herrentoilette an Bord.«
»Und man kann ja auch über die Reling schiffen!«, rief der Punk, der allem eine durchaus spaßige Variante abgewinnen konnte. Immerhin gab es Freigetränke. Ihn nervte nur diese schreckliche Musik im Restaurantbereich.
»Also, machen wir jetzt Nägel mit Köpfen«, sagte der Kellner und bemühte sich um einen Tonfall in der Stimme, der keinen Widerspruch duldete. Ein flirrendes Gefühl ergriff ihn. Man hörte ihm zu. Niemand winkte ihn herbei, um einen Ostfriesentee zu bestellen, kein Mensch meckerte, weil er mal wieder nicht schnell genug rannte. Sie hatten ihn in diesem Kampf zum Feldherrn erkoren. Die Mutigsten unter ihnen würden sich seiner Armee anschließen. Er hatte Soldaten, wenn er sie brauchte.
Kai Rose sah sich hilflos um. »Sie wollen uns doch jetzt nicht zwingen …«
Der Kellner, Brad Pitt der Dicke und Helmut Schwann, der Steuerfachanwalt mit dem blutigen Hemd, banden sich weiße Tischdeckchen als Mundschutz vors Gesicht. Dadurch bekamen sie etwas Bedrohliches und erinnerten an die Männer, die die Ostfriesland III an der Landung gehindert hatten. Der Kellner nickte ihnen zu.
Margit Rose hörte schon wieder Knochen zerbrechen. Ihr Gehör wurde für sie zu einem erschreckend deutlichen, geradezu seismografischen Wahrnehmungsinstrument, das ein
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