Todesdämmerung
Ihr blutiges Werk lag nur ein paar Meter von ihm entfernt, unzweifelhaft.
Er versicherte sich, daß der Angriff auf Grace Spivey eine rationale, natürliche Erklärung haben mußte, konnte sich aber selbst nicht ganz überzeugen. Vielleicht waren die Fledermäuse tollwütig; das könnte eine Erklärung dafür sein, daß sie nicht vor dem Schuß geflohen waren, sondern statt dessen von ihm angezogen worden waren, denn alle tollwütigen Tiere waren gegenüber grellen Lichtern und lauten Geräuschen besonders empfindlich. Aber warum hatten sie sich nur auf Grace gestürzt, sie zerfleischt und Joey, Christine, Barlowe und Charlie selbst unangetastet gelassen?
Er sah Joey an.
Der Junge war aus seiner quasiautistischen Trance erwacht. Er war zu Chewbacca gegangen und kniete jetzt schluchzend neben dem Hund, wollte das reglose Tier berühren und fürchtete sich doch, machte mit beiden Händen kleine Gesten der Hilflosigkeit.
Charlie erinnerte sich, wie er letzten Montag in seinem Büro Joey angesehen und anstelle seines Gesichts einen fleischlosen Schädel gesehen hatte. Es war eine kurze Vision gewesen, die nur ein Augenzwinkern lang gedauert hatte, und er hatte die Erinnerung daran in die hinteren Bereiche seines Bewußtseins verdrängt. Wenn er sich überhaupt des halb gesorgt hatte, dann, weil er geglaubt hatte, die Vision könne bedeuten, Joey würde sterben; aber in Wirklichkeit hatte er nicht an hellseherische Visionen geglaubt und sich auch deshalb keine großen Sorgen gemacht. Jetzt fragte er sich, ob die Vision Wirklichkeit gewesen war. Vielleicht hatte sie nicht bedeutet, daß Joey sterben würde; vielleicht hatte sie bedeutet, daß Joey der Tod war.
Sicherlich waren derartige Gedanken nur ein Beweis für die Schwere seines Fiebers. Joey war Joey — nicht mehr, nichts Schlimmeres, nichts Geheimnisvolles.
Aber Charlie erinnerte sich auch an die Ratte im Batterieraum und an den Traum, den er später in derselben Nacht gehabt hatte, den Traum, in dem Ratten — Boten des Todes — aus der Brust des Jungen geströmt waren.
Das ist doch verrückt, sagte er sich. Ich bin zu lange De tektiv gewesen. Ich vertraue jetzt niemandem mehr. Jetzt suche ich sogar in den unschuldigsten Herzen nach Täuschung und Verderbtheit.
Joey streichelte den Hund und fing zu reden an, wobei die Worte atemlos aus ihm hervorquollen, immer wieder von Schluchzen unterbrochen: »Mama, ist er tot? Ist Chewbacca tot? Hat dieser böse Mann Chewbacca umgebracht?«
Charlie sah Christine an. Ihr Gesicht war von Tränen feucht, und in ihren Augen wartete die nächste Flut. Sie schien im Augenblick kein Wort hervorbringen zu können. Widerstreitende Gefühle kämpften um die Herrschaft über ihr liebliches Gesicht: Schrecken über Spiveys blutigen Tod, Überraschung über ihr eigenes Überleben, die Freude über den Anblick ihres unversehrten Kindes.
Jetzt, da er ihre Freude sah, schämte sich Charlie, daß er den Jungen mit Argwohn betrachtet hatte. Und doch war er ein Detektiv, und argwöhnisch zu sein gehörte zu den Aufgaben eines Detektivs.
Er musterte Joey scharf, entdeckte aber nichts von der bösen Strahlung, von der Spivey gesprochen hatte, hatte nicht das Gefühl, sich in der Gegenwart von etwas Monströsem zu befinden. Joey war immer noch ein sechsjähriger Junge, immer noch ein hübsches Kind mit einem süßen Lächeln. Konnte immer noch lachen und weinen und sich ängstigen und hoffen. Charlie hatte gesehen, was Grace Spivey widerfahren war, und hatte doch nicht die geringste Angst vor Joey, weil er nicht plötzlich anfangen konnte, an Teufel, Dämonen und den Antichrist zu glauben. Als Laie hatte er sich immer für die Wissenschaften interessiert und seit seiner Kindheit mit Begeisterung die Entwicklung der Weltraumfahrt verfolgt; er hatte immer geglaubt, daß Logik, Vernunft und Wissenschaft — das säkulare Gegenstück zur heiligen Dreifaltigkeit der Christenheit — eines Tages alle Probleme der Menschheit und all die Mysterien der Existenz lösen würden, darunter auch das Rätsel um die Herkunft und die Bedeutung des Le bens. Und wahrscheinlich konnte die Wissenschaft auch erklären, was hier geschehen war; ein Biologe oder ein Zoologe, der sich auf Fledermäuse spezialisiert hatte, würde höchstwahrscheinlich ihr Verhalten als durchaus normal klassifizieren.
Joey kniete immer noch über Chewbacca, streichelte ihn, weinte — und da regte sich plötzlich der Schweif des Hundes und strich über den Boden.
Joey schrie:
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