Todesdämmerung
einen Augenblick, um sich von einer Erschöpfung zu erholen.
»Dann werde ich es tun«, sagte Grace Spivey wütend. Sie hatte den Karabiner am Schulterriemen gehalten, nahm ihn jetzt in beide Hände. »Du bist mein Judas, Kyle Barlowe. Judas. Du hast mich im Stich gelassen. Aber Gott wird mich nicht im Stich lassen. Und ich werde Gott nicht im Stich lassen so wie du. Nein, nicht ich, nicht die Auserwählte, nicht ich!«
Christine sah Joey an. Er stand immer noch in der Ecke, den Rücken an der Felswand, die Arme jetzt erhoben, die kleinen blassen Hände ausgestreckt, als könnte er damit die Kugeln abwehren, die Grace Spivey auf ihn abfeuern würde. Seine Augen waren riesengroß und verängstigt und fixierten die alte Frau, als hätte sie ihn hypnotisiert. Christine wollte ihm zurufen, er solle weglaufen, aber das war sinnlos, weil Spivey vor ihm stand und ihn sicherlich aufhalten würde. Außerdem, wohin sollte er gehen? Nach draußen in die eisige Luft, wo er bald erfrieren würde? Tiefer in die Höhlen hinein, wo Spivey ihm mit Leichtigkeit folgen und ihn bald finden würde? Er hatte keinen Ausweg, war klein, konnte sich nicht verteidigen, sich nirgends verstecken.
Christine sah zu Charlie hinüber, und dem standen die Tränen der Enttäuschung darüber, daß er ihr nicht helfen konnte, in den Augen. Sie versuchte sich selbst auf Grace Spivey zu werfen, aber ihr verwundetes Bein und die verletzte Schulter hinderten sie daran, und so sah sie schließlich in ihrer Verzweiflung zu Kyle hinüber und sagte: »Las sen Sie nicht zu, daß sie es tut! Um Himmels willen, lassen Sie nicht zu, daß sie ihm weh tut!«
Der Riese blinzelte nur dümmlich. Er schien unter Schock zu stehen, außerstande, Spivey den Karabiner zu entwin den.
»Bitte, bitte, stoppen Sie sie«, bettelte Christine.
»Du hältst den Mund!« warnte Grace und trat drohend einen Schritt auf Christine zu. Dann wieder zu Joey gewandt: »Und du versuche bloß nicht, deine Augen gegen mich ein zusetzen. Bei mir funktioniert das nicht. Damit schaffst du es bei mir nicht, nicht bei mir. Ich kann mich wehren.«
Die alte Frau schien Probleme mit dem Mechanismus der Waffe zu haben, und als sie schließlich einen Schuß abfeuerte, ging der in die Höhe, schlug über Joeys Kopf ein, traf fast die Decke, und der Explosionsknall hallte in dem engen Raum, ein Echo, das sich über das andere legte. Der donnerartige Lärm und der Rückstoß überraschten Spivey, ließen sie zwei Schritte nach rückwärts taumeln. Sie feuerte noch einmal, ohne es zu wollen, und die zweite Kugel traf die Decke, prallte ab und pfiff durch den Raum.
Joey schrie.
Christine brüllte, suchte nach irgend etwas, das sie werfen konnte, nach einer noch so primitiven Waffe, konnte aber nichts finden. Der Schmerz in ihrem verletzten Bein war wie eine Schraube, die sie am Stein festhielt, und sie konnte in ihrer Hilflosigkeit nur mit der Hand auf den Stein schlagen.
Die alte Frau rückte Joey näher, hielt die Waffe ungeschickt, aber sichtlich entschlossen, diesmal ein Ende zu machen. Aber irgend etwas stimmte nicht. Entweder war die Munition ausgegangen, oder die Waffe hatte tatsächlich eine Ladehemmung, denn Spivey begann wütend an dem Karabiner zu zerren.
Während das Echo des zweiten Schusses verhallte, erhob sich aus den Tiefen des Berges ein seltsames Geräusch, steigerte die Verwirrung, verstärkte sich in den anderen Kavernen, ein fremdartiges, beunruhigendes Tosen, das Christine nicht identifizieren konnte.
Die Waffe hatte tatsächlich eine Ladehemmung. Spivey schaffte es, die leere Patronenhülse, die sich verklemmt hatte, auszuwerfen. Der Messingzylinder sprang heraus, funkelte im Flammenschein und fiel klirrend zu Boden.
Das fremdartige, lederne, klatschende Geräusch kam näher, rückte aus den Tiefen des Berges heran. Die kühle Luft vibrierte.
Spivey wandte sich halb von Joey ab, um zum Eingang der nächsten Höhle zu blicken, durch den sie und der Riese vor ein paar Minuten hereingekommen waren. »Nein!« sagte sie und schien zu wissen, was kam.
Und in dem Augenblick wußte es Christine auch.
Fledermäuse.
Ein donnernder, flatternder, wirbelnder Tornado aus Fle dermäusen.
Im nächsten Augenblick schwärmten sie aus den umlie genden Kavernen herein, hundert von ihnen, zweihundert, mehr, stiegen zur gewölbten Decke, kreischten, flatterten wild mit ihren ledernen Schwingen, schössen vor und zurück, eine brodelnde Menge durcheinanderwirbeln der Schatten in den oberen
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