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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis
Autoren: Bernward Schneider
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Dame hieß Thayer.
    »Sie sind Deutscher?«, fragte Gladys.
    »Ein deutscher Reporter mit Korrespondenzen in London und New York«, erwiderte Raubold. »Ich beliefere meine Heimat mit Nachrichten aus aller Welt.«
    Er strahlte Gladys mit einem zufriedenen Lächeln an, als ob er ein anerkennendes Wort erwartete. Er schien ein Reporter mit Leib und Seele zu sein.
    »Also, mein Herr?«, sagte Mrs. Thayer, bevor Gladys etwas äußern konnte. »Lüften Sie das literarische Geheimnis!«
    »Im Jahr 1898 verfasste ein wenig bekannter Schriftsteller namens Morgan Robertson einen Roman über einen Atlantikdampfer, der größer war als jedes andere bisher vom Stapel gelaufene Schiff«, antwortete Raubold. »Der Autor belud sein Schiff mit reichen und selbstgefälligen Passagieren und ließ es in einer kalten Aprilnacht einen Eisberg rammen und untergehen.«
    »Mein Gott!« Mrs. Thayer schlug entsetzt die Hand vor den Mund.
    »Das Romanschiff hatte eine Länge von 244 Metern, die Titanic ist 269 Meter lang«, fuhr der Sprecher fort, »beide Schiffe sind Dreischraubendampfer, erreichen eine Geschwindigkeit von 24 bis 25 Knoten, können ungefähr 3000 Passagiere aufnehmen und gelten als unsinkbar.«
    »Sie wollen sich über mich lustig machen, nicht wahr, Mr. Raubold?«, fragte Mrs. Thayer.
    »Das Buch können Sie kaufen – oder auch von mir ausleihen, wenn Sie mögen. Ich habe es in meiner Kabine. Ein Freund in London mit echtem britischen Humor gab es mir vor ein paar Tagen, als ich ihm erzählte, ich würde an der Jungfernfahrt der Titanic teilnehmen. Aber ich habe Ihnen noch nicht gesagt, wie der Name des Romanschiffes war.«
    »Sprechen Sie.«
    »Der Name war Titan.«
    Mrs. Thayer wurde noch blasser, sodass Gladys befürchtete, sie könnte tatsächlich in Ohnmacht fallen.
    »Das ist jetzt ein Scherz, nicht wahr?«
    Der Reporter schüttelte den Kopf. »Bedauerlicherweise nein. Tja, manche Schriftsteller scheinen Propheten zu sein.«
    »Warum sind Sie auf dem Schiff, wenn Sie damit rechnen, dass es untergeht?«, fragte Gladys.
    Raubold hob seine Umhängetasche ein Stück an und deutete auf den Fotoapparat.
    »Ich bin Fotoreporter, ein Pressemann«, sagte er. »Es gehört zu meinem Beruf, mich in Gefahr zu begeben. Das interessiert die Zeitungsleser. Sollte die Titanic das Schiff sein, dessen Untergang jener Autor vorausgesehen hat, hoffe ich, Aufnahmen vom Untergang machen zu können.«
    Gladys lachte. »Wie wollen Sie das bewerkstelligen, wenn Sie mit dem Schiff untergehen.«
    »Nun«, lächelte Raubold, »ich hoffe natürlich, dass ich es rechtzeitig in eines dieser Rettungsboote schaffe, die sich hier oben befinden, und von dort aus die Aufnahmen machen kann. Die Titanic ist auf einer viel befahrenen Route unterwegs. Es wird nicht lange dauern, bis man von einem anderen Dampfer aufgenommen wird.«
    Mrs. Thayer warf einen Blick hinüber zu den Rettungsbooten. »Gibt es denn genug Boote für alle Passagiere?«
    Raubold schien einen Moment überrascht, als hätte er diese Möglichkeit noch gar nicht bedacht.
    »Oh, jetzt machen Sie aber Scherze, meine Liebe! Ich muss mich wirklich einmal erkundigen. Aber ich bin zuversichtlich, dass es für mich ein trockenes Plätzchen geben wird.« Er kratzte sich am Kopf. »Na ja – zur Not bin ich auch ein guter Schwimmer. Aber das ist natürlich nicht Sinn der Sache: Um die Fotos wäre es dann wohl geschehen.«
    Es war etwas an Raubold, das Gladys vom ersten Moment an Vertrauen zu ihm fassen ließ.
    »Sie werden keinen Platz im Rettungsboot brauchen, Mr. Raubold«, sagte Gladys zu dem Reporter. »Und schwimmen können Sie in dem großen, beheizten Bad, das es im Inneren des Schiffes geben soll. Die Titanic wird Sie währenddessen sicher bis nach New York tragen.«
    »Hoffentlich haben Sie recht, meine Schöne«, schaltete sich Mrs. Thayer ein. »Ehrlich gesagt, bin ich immer etwas erleichtert, wenn jemand meinen negativen Ahnungen keinen Glauben schenkt.«
    Die Titanic passierte die Küste der Isle of White, die im späten Sonnenlicht des Frühlingstages wunderschön aussah. Am Vordermast wehte die amerikanische Flagge, und als Gladys den Reporter fragte, wie das bei einem englischen Schiff sein könne, erklärte ihr dieser, die Beflaggung richte sich nach dem Zielhafen.
    Als das Festland nicht mehr zu sehen war, verabschiedete sich Gladys von ihren neuen Bekannten und begab sich in ihre Kabine.
    Erschöpft und müde lag sie auf ihrem Bett. Die Aufregungen der vergangenen Stunden, die
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