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Todeseis

Todeseis

Titel: Todeseis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernward Schneider
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der den Bau besserer Schiffe geplant hatte, jetzt aber verletzt und ohnmächtig auf dem Boden seiner Kabine lag, hatte keine Chance mehr, dem Bauch des Schiffes zu entkommen. Sein Schicksal würde es sein, in der Kabine eingeschlossen zu ertrinken.
     
    *
     
    Die Titanic lag bewegungslos auf der Wasseroberfläche; ein Schiff, das zur Ruhe gekommen war, aber ohne irgendwelche Anzeichen eines Unglücks. Kein Eisberg war erkennbar, und auf den Decks herrschte Bewegung, aber keine Panik. Die See war bis auf die kleinen Wellen so ruhig wie ein Binnengewässer. Am Himmel herrschte ein brillantes Sternengefunkel, aber ganz ohne den Mond. Es war eine so bizarre Szenerie, dass Raubold ein Gefühl hatte, als befände er sich in einem Traum, aus dem er jeden Moment erwachen könnte.
    Die Musikkapelle spielte noch immer, um die Herzen der Passagiere zu erfreuen, und die Ingenieure und ihr Personal arbeiteten fieberhaft an den Dynamos und hielten sie in Gang. Die Beleuchtung auf den Decks war matter geworden, aber doch hell genug, um Gesichter zu erkennen und auch sonst alles, was vor sich ging.
    Kaum verborgen gab es am Rande Szenen zu beobachten, die zu normalen Zeiten unmöglich gewesen wären: Paare in unzweideutigen Stellungen, trotz der Kälte halb entblößt, mit nackten Schenkeln in geschlechtlicher Vereinigung; man hörte ihr Stöhnen, hörte ihr Jammern und andere Geräusche geschlechtlicher Lust.
    Raubold sah seinen Kollegen, den Journalisten Stead, mit einem Buch in der Hand über das Deck flanieren. Es sah aus, als suchte er ein ruhiges Plätzchen, wo er ungestört lesen könnte. Auch die vier Herren, die er vorhin beim Kartenspielen im Rauchsalon gesehen hatte, während sie in aller Seelenruhe ihren Whisky tranken, promenierten jetzt an der Reling bei den letzten Booten. Colonel Astor, Mr. George Widener und Mr. John Thayer winkten ihren Frauen, die in eines der Boote gestiegen waren und dort auf das Abfieren warteten, zum Abschied wehmütig zu. Die Bordkapelle spielte einen Ragtime.
    Nach vorn und nach unten sehend konnte man Boote auf dem Wasser erkennen, die sich langsam Stück für Stück entlang der Bordwand bewegten, ohne Hektik oder Lärm, und die sich fortstahlen in die sie verschlingende Dunkelheit.
    Gladys, Carran und Raubold standen steuerbords an der Reling, als sie hörten, wie ein von Backbord kommendes Besatzungsmitglied sagte, dass im letzten Boot, das dort gerade belegt würde, noch Platz für einige Damen sei. Carran nahm den Arm seiner Geliebten, und sie eilten zu dritt auf die andere Seite. Kaum hatten sie die Reling backbords erreicht, als sie von unten den Ruf hörten:
    »Sind da noch Frauen?«
    Beim Blick über die Deckskante bemerkte Gladys ein Boot mit einer Besatzung von Heizern und einer Mehrzahl von Frauen. Der zweite Offizier Lightoller gab Anweisungen.
    »Kommen Sie«, rief einer der Heizer, als er Gladys erblickte. »Springen Sie! Für Frauen ist noch Platz.« Und er sah sie an, als wollte er sie kraft seines Blickes veranlassen, sich nach unten fallen zu lassen. Sie müsste nicht sterben, dachte Gladys, das Schicksal erwies sich durchaus als gnädig, aber der Gedanke beeindruckte sie nicht, und die Aussicht, in eines der Boote steigen zu können, rief keine inneren Kämpfe in ihr hervor. Die Sterne am Himmel funkelten so wunderbar klar, und genauso kristallklar war ihre eigene Gewissheit, dass sie nur zu dritt, nicht aber sie allein, in eines der Boote gehen würden.
    »Wir sind zu dritt«, rief Gladys daher zurück.
    »Nur Frauen! Keine Männer!«, kam es von weiter unten.
    Als Gladys sich zur Seite drehte, sah sie Mr. und Mrs. Strauss, die Arm in Arm über das Bootsdeck schlenderten. Sie schienen in einem heiteren Geplauder begriffen zu sein, und als sie stehen blieben und sich an die Reling lehnten, hielten sie sich eng umschlungen. Hinter sich hörte sie Rogers Stimme.
    »Spring, Gladys, spring hinab! Der Heizer wird dich auffangen!«
    Gladys dachte einen Moment lang daran, wie es wäre, ohne ihren Geliebten in New York anzukommen. Aber es war nur ein Gedanke, ein abstraktes Bild, das keine Gefühle in ihr auslöste, es war keine Möglichkeit, die sie ernsthaft für sich erwog.
    »Nein«, sagte Gladys und trat von der Deckskante zurück. »Mein Platz ist hier auf dem Schiff.«
    Roger fasste sie an den Schultern.
    »Gladys, es ist deine letzte Möglichkeit! Rette dich!«
    »Und was ist mit dir?«
    »Ich werde mich auch retten. Die Hilfe ist nahe. Schiffe zur Unglücksstelle sind

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