Todeserklärung
Ende der Schulzeit am meisten deshalb betrauert hatte, weil er sich für einen konkreten Beruf entscheiden und viele andere Fachgebiete aufgeben musste, die in der Schule sein Interesse geweckt hatten. Als er mit dem Jurastudium begonnen hatte, dachte er lange über die Berufe nach, die er auch hätte erlernen können. Und im Grunde war es dabei geblieben, dass er eine verbindliche und vielleicht irreversible Struktur scheute und danach trachtete, an einer Schwelle verharren zu können, die ihm ohne Opfer gestattete, einen anderen Weg einzuschlagen. Plötzlich fiel ihm auf, dass seine Liebe zu Marie diese Vorbehalte ausleben ließ, ohne dass er sich dessen bislang bewusst geworden war. Die Enklave in der Brunnenstraße, die er bis vor kurzem beliebig aufsuchen und verlassen konnte, wann er wollte, und insbesondere der Umstand, dass Marie als Studentin eben noch nicht in eine Lebensphase eingetreten war, in der man dauerhafte soziale Entscheidungen treffen musste. Marie konnte sich vorstellen, später als Deutschlehrerin an einem Gymnasium zu arbeiten. Aber ob es dazu kam oder nicht, war derzeit keine drängende Frage, und insbesondere war nicht zu entscheiden, in welcher sozialen Struktur Marie leben würde. Ehe, Kinder, Haus, ja oder nein, das waren Fragen ohne wesentliche Bedeutung. Und umgekehrt musste Marie an seinem in dieser Hinsicht unruhigen Geist Gefallen finden. Der Anwalt, der sozial situiert schien, aber auf Konvention keinen Wert legte, gerne zuhörte, wenn sie von Goethe , Brentano und anderen Größen erzählte, mit ihr Pizza in dem alten Ofen in ihrer Wohnung in der Brunnenstraße backte, Rotweinflaschen von der nahen Trinkhalle holte, die sie austranken, während sie sich im Bett streichelten, erzählten oder auch mal nur Fernsehen schauten. Nicht, dass der in der Dahmsfeldstraße gereichte Grand Cru nicht schmeckte. Aber er musste es nicht sein. Knobel wollte sich nicht festlegen, aber nicht, weil er Beliebigkeit wollte, sondern weil in vielen Lebensfragen das sowohl-als auch keine Verlegenheitslösung war, sondern größtmöglichen Genuss versprach. Das konnte man negativ sehen und ihm vorwerfen, dass er sich nicht entscheiden wollte oder positiv, weil Knobel offen blieb und deshalb allem Neuen zugänglich. Hätte man ihm vorhergesagt, dass er einst zweiter Chef einer angesehenen Anwaltskanzlei sein würde, hätte er das wie vermutlich jeder andere, der sich für diesen Beruf interessierte, als erstrebenswertes Ziel angesehen. Viele andere hätten dieses Ziel fokussiert und hätten es, einmal erreicht, eisern verteidigt, ihr Leben rundherum entsprechend gestaltet, eingerichtet und gesichert. Er hingegen konnte Alternativen zulassen. Sein Leben konnte, aber es musste nicht unbedingt seinen vorgezeichneten Weg gehen. Eine Wohnung in Huckarde in der Nähe von Anadolugrill und Pizzeria Tre-Palme widersprach dem nicht, aber es passte durchaus zu seinem Wesen, dass er noch keinen Mietvertrag für diese Wohnung unterschrieben hatte. Knobel wollte sich nicht festlegen, aber er konnte keinem begreiflich machen, dass das, was nach außen – und manchmal mit Recht – als Egoismus ausgelegt wurde, nichts anderes war als Ausdruck seines Bestrebens, keiner Alternative den Weg zu versperren, die sein Leben bereichern könnte.
Den bisherigen Weg zu verlassen, konnte in der gefügten Welt seines Schwiegervaters Marie nur zur bitch geraten lassen: Eine Irrfahrt in die Unmoral, abgekommen von einem sicheren Damm, den rechts und links nur übler Sumpf umgab. Knobel hätte gern erklärt, dass er bei Marie etwas gefunden hatte, was er bei Lisa vermisste, ohne dass er ihr dies jemals zum Vorwurf machen würde: Marie war wie er ein tastender Mensch, und ihre Liebe blieb ein zitterndes und immer neues Erkunden, ein immer neues Aufeinandereinlassen. Man liebt anders und intensiver, wenn man sich des nächsten Tages nicht gewiss ist. Liebe stirbt, wenn man sich ihrer sicher ist, so glaubte er.
Warum liebte Knobel seine Tochter nicht, wie man sein Kind liebt? Knobel war das Kind zu gewaltig. Es kam aus einem gebundenen Leben. Vielleicht hatte er Angst davor, sich auf das Kind einzulassen. Das kleine Wesen kann nichts dafür , würde jeder sagen. Und Knobel wüsste darauf nichts zu erwidern.
Marie saß auf seinem Schoß, küsste seine Stirn und streichelte durch seine Haare.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er auf ihre weit zurückliegende Frage. Und als ihn Marie weiter streichelte, wusste er, dass ihre Frage
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