Todeserklärung
zunächst in einem Fach abgelegt war, und erst wieder hervorgezogen werden würde, wenn sie erneut die Frage stellen und er sie beantworten wollte. Knobel massierte sanft Maries Rücken, und er dachte dabei auch an Lisa, mit der er sich solche Momente gewünscht hätte. Dann schlief er gemeinsam mit Marie ein.
19
Bevor Knobel am anderen Morgen Maries Wohnung verließ, rief sie ihn an ihren Computer. Die Digitalfotos von den Ölbildern aus Sebastians Wohnung erschienen in leuchtenden Farben auf dem Bildschirm.
»Mallorca ist unser einziger Ansatzpunkt für Sebastians Aufenthaltsort«, meinte sie.
Marie wechselte zwischen seinen Landschafts-und Stadtbildern hin und her. »Wenn er Szenen aus der Innenstadt von Palma gemalt hat, wie der Galerist behauptet, spricht viel dafür, dass er sich in Palma oder der Umgebung aufhält«, fuhr sie fort.
Sie betrachteten eines seiner Stadtmotive. »Die Bilder sind, obwohl abstrahierend, so konkret, dass man eine bestimmte Örtlichkeit wahrscheinlich wiedererkennen würde«, vermutete sie, »und das bedeutet, dass er sich konkret mit seinem Motiv beschäftigt, es genau studiert oder vielleicht sogar vorher skizziert hat. Er hat nicht bloß eine Stimmung einfangen wollen.«
»Er könnte in Palma fotografiert und an einem anderen Ort das Motiv gemalt haben«, hielt Knobel dagegen.
»Wir müssen Sebastian Pakulla nicht unbedingt in Palma finden! Mal davon abgesehen, dass es nur den unsicheren Hinweis des Galeristen gibt.«
»Solange wir nichts anderes haben, ist Palma unser Ansatzpunkt. Erinnere dich daran, dass der Galerist sich ziemlich sicher war, die Kathedrale von Palma erkannt zu haben. Wobei ihm was auffiel?«
Knobel rollte die Augen. Marie würde tatsächlich eine gute Lehrerin abgeben.
»Was fiel auf?«, fragte er gedehnt.
»Sebastian hat die Catedral La Seu aus einer ungewohnten Perspektive gemalt. Meistens dient sie nämlich auf Fotos oder Gemälden dem Hafen als Hintergrundkulisse. Sie liegt quer zum Wasser. Viele Bilder zeigen deshalb vorn Schiffe und Boote und die Kathedrale erhöht im Hintergrund. Sebastian jedoch malt sie von der Stadtseite aus. Ungewöhnlich. Und weil es sich nicht um ein typisches Touristenmotiv handelt, glaube ich, dass Sebastian keine Postkarte oder ähnliches nachgemalt hat, sondern vor Ort war und selbst skizziert hat. Und ich glaube auch nicht, dass es das Nachmalen eines Fotos ist.«
»Warum?«
»Sebastian abstrahiert. Ich vermute einfach, dass man seinen Gedanken keinen freien Lauf lassen und abstrahieren kann, wenn man eine konkrete Bildvorlage hat. Zumindest kann ich mir das nur schwer vorstellen. Andererseits finden sich auf dem Bild etliche Details, die in Wirklichkeit so vorhanden sein könnten.«
Knobel erschienen Maries Gedanken zu spekulativ.
»Also?«, fragte er ungläubig.
»Ich denke, er hat sich das Motiv in der Realität intensiv, vielleicht auch mehrfach, angesehen und dann aus dem Gedächtnis heraus gemalt. Nur so erklärt sich der Detailreichtum auf der einen und die Abstraktion auf der anderen Seite.«
Sie schaute ihn belustigt an. »Du fragst ja nicht …«
»Du wirst es erklären, meine Lehrerin.«
»Ich glaube, dass Sebastian sich in Palma oder in nächster Umgebung aufhält, weil er immer wieder zu seinen Motiven muss. Er lebt nicht von Fotos oder vom flüchtigen Sehen. Er wird immer wieder die Orte aufsuchen müssen, die er malt. Deshalb hat er sein Quartier in Palma oder Umgebung.«
»Und die Landschaftsbilder?«, fragte Knobel.
»Sie helfen uns nicht wirklich weiter«, befand Marie. »Hügel, Felder, Pinien, Zypressen, das kann wirklich überall im Süden sein! Wenn du die Landschaftsbilder miteinander vergleichst, die in Sebastians Wohnung stehen«, und sie holte die Bilder der Reihe nach auf den Bildschirm, »dann fällt doch auf, dass sie aus denselben Elementen bestehen, aber jeweils anders zusammengesetzt sind.«
Knobel blickte verständnislos auf den Bildschirm.
»Vergleiche diese beiden«, sagte Marie und sie wechselte zwischen den letzten Bildern hin und her. Und indem schnell das eine das andere Bild und umgekehrt ablöste, fiel es Knobel auf: Die beiden Zypressen hüpften vom rechten auf den linken Hügel und zurück, die Ebene im Vordergrund wechselte zwischen gelb und rot, das sich durch das Bild schlängelnde Wasser wechselte zwischen stiller, den Himmel spiegelnder und gekräuselter Oberfläche.
»Das heißt: Dieses Motiv gibt es nicht wirklich«, folgerte er. »Oder es gibt eines,
Weitere Kostenlose Bücher