Todesfalter
Junge, dieser Andreas, einer, dem alles zuflog! Maria hatte ihn um diese Leichtigkeit beneidet, die ihr so fremd war. Es war nicht viel davon übrig geblieben. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
Da sprang ihre Tochter herein, Johanna Helena, genannt Lenchen, gerade sechs Jahre alt. Sie lief auf den Vater zu, umarmte ihn fest und schüttelte sich lachend, als er sie kitzelte und drohte, sein nasses Haar über ihr auszuschütteln. Die beiden vergnügten sich ungeniert miteinander; erst nach einer Weile beachtete Andreas Graff seine schweigende Frau. Mit einem vielsagenden Blick zu Maria hob er die Kleine hoch, gab ihr einen feuchten Kuss auf die Wange und fragte: »Na, wen hast du am liebsten auf der ganzen Welt?«
Das prompte »Dich, Papa« nahm er mit einem zufriedenen Nicken und einem halben Lächeln in die Richtung seiner Frau zur Kenntnis. »So ist es recht«, sagte er, als er sie absetzte. Er gab ihr einen Klaps auf den Po. »Töchter müssen ihre Väter lieben. Und Väter verehren ihre Töchter. Ist es nicht so, Maria?« Er hob ein wenig die Stimme. »Du musst wissen, mein Augapfel«, fuhr er dann leiser an Johanna Helena gewandt fort und neigte sich zu ihr hinunter, »als dein berühmter Opa, der große Herr Verleger, auf seinem Sterbebett lag, da hat er gesagt: ›Bin ich schon nicht mehr da, wird man noch immer sagen, Maria Sibylla ist Merians Tochter.‹«
»Andreas!« Maria wandte den Kopf ab. »Lass das doch.«
»Nein, nein, nein«, widersprach er, und sie konnte seiner Stimme anhören, dass ihn noch immer der Alkohol beherrschte. »So eine ist deine Mama, das darfst du nicht vergessen, die wird mal berühmt.« Er betonte das Wörtchen die in einer Weise, die Johanna nicht bemerkte, Maria Sibylla aber keinesfalls entging. Sie wandte sich wieder um und schaute ihn voll an.
Er grinste sie an. »Aber der Papa, der liebt dich.«
»Ist das wahr, Mama?« Das Mädchen hängte sich an ihre Röcke. Maria neigte sich hinunter und gab der Kleinen einen Kuss. Sie roch nach Kind und Unschuld und ein wenig auch nach Wein. »Geh hinaus zu Anne und frag, ob du ihr helfen kannst.« Als sie sich wieder aufrichtete, hatte ihr Mann sich weggedreht.
Musste das sein?, wollte sie ihn fragen, ließ es aber bleiben. Auch, dass sie mit den Jungfern unterwegs gewesen war, wollte ihr nicht über die Lippen. Er schmähte sie gern ihrer Kontakte wegen, da manche der Familien, die sie gerne beschäftigten, ihn nicht zu grüßen pflegten. Stattdessen fragte sie: »Wie ist es gelaufen vor dem Rat? Hat ihm die Stadtansicht gefallen?« Es lag wenig Hoffnung in ihrer Stimme. So, wie ihr Gemahl beieinander war, rechnete sie mit einer Schimpfkanonade auf die Pfeffersäcke ohne Kunstverstand, die Krämergeister und Rechenmeister, die diese Stadt regierten und seine Künstlerseele knechteten. Zu ihrer Überraschung jedoch sagte er: »Gefallen hat’s ihnen. Und wie.«
»Was?«, fragte sie überrascht und hätte sich selbst dafür ohrfeigen können, als sie sein düsteres Gesicht sah. »Du hast den Auftrag? Aber das ist ja großartig, das ist …«
Verärgert winkte er ab.
Sie sammelte sich und sagte mit aller Aufrichtigkeit, zu der sie fähig war: »Das ist sehr gut, Andreas.«
Er schaute sie an. Für einen Moment erkannte sie den Mann wieder, in den sie sich verliebt hatte. Sie lächelte.
Er grinste schief. Seine Augen begannen zu funkeln. »Ich hab’s auch schon gefeiert.«
»Ach, Andreas«, entfuhr es ihr. »Nein.«
»In der Schenke, die an Sankt Lorenz angebaut ist, du weißt schon.«
Maria schloss die Augen. »Wie viel?«, fragte sie schließlich.
Er zuckte mit den Achseln. »Hab ein bisschen den Überblick verloren. Ein Knecht kommt vorbei. Gibst ihm halt, was er verlangt.« Er streckte die Hände aus und versuchte, sie an sich zu ziehen.
»Andreas, bitte lass das.« Sie schob seine Hände weg.
»Da«, beklagte er sich. »Eben, als du gedacht hast, ich hätt Geld und Erfolg, da warst du ganz schmiegsam. So eine bist du.«
»Andreas, bitte.«
»Andreas, bitte« ,äffte er sie nach. »Das hätte dein Vater mal erwähnen sollen auf seinem Sterbebett, was für eine raffgierige Zierpuppe du bist. Und überhaupt …«
Sie ging ans Fenster, um die restliche Beschimpfung nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Als er endlich ruhiger wurde, fragte sie nur: »Sitzen die Stecher schon an der Karte?«
Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass sie von der Stadtansicht sprach. Er wurde kleinlaut.
»Soll ich …?«, bot sie
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