Todesformel
dritten Stock sind die Fenster vergittert, das ist ein Vernehmungszimmer, da soll niemand aus dem Fenster springen.
Urs Bäumlin fischt aus einer Schublade ein Paket Cracker, reißt es auf, bietet Frau Platen ›etwas in den Magen‹ an, sie nimmt verwirrt dankend an.
Ich sehe die Chance, wie und was auch immer, ich brauche Zeit, mich zu orientieren.
»Hat Frau Platen denn schon irgendetwas unterschrieben, ein Protokoll? – Gut. Das jetzige Protokoll wäre doch am besten gleich zu stoppen. Alle bisherigen Aussagen können vorsorglich gleich gelöscht werden! Es ist möglicherweise unter ungültigen Bedingungen aufgenommen worden. Meine Klientin ist anscheinend nicht bei klarem Bewusstsein. Da ich nicht hier war, lässt sich nicht feststellen, von welchem Moment an sie so apathisch ist. Ich habe Frau Platen vor drei Wochen kennengelernt, privat, da war sie gewandt, lebhaft, redete viel. Wenn sie jetzt nicht oder kaum spricht, kann das nur eine körperliche Ursache haben. Jetzt, im Moment, befindet sie sich in einem akuten, schockartigen Schwächezustand, jeder Arzt wird das bestätigen. Ich beantrage, jetzt den Pikettarzt zu rufen, damit es einwandfrei festgestellt und protokolliert werden kann.« Ich mache eine Pause, setze mich entspannter hin, die Beine schräg übereinandergeschlagen, frage Frau Platen, ob sie sich besser fühle, ob sie eine Tasse Kaffee möchte. In der Zwischenzeit weiß ich wenigstens, was ich will, das Wort ›Einvernahme‹ muss weg. Ich fahre fort:
»Ich gehe davon aus, dass es hier um eine Zeugenaussage geht und dass gegen meine Klientin nichts vorliegt. Diese Fragen können in diesem Fall ebenso gut morgen noch einmal gestellt werden. Dann werde ich mit dabei sein und erhalte meinen ersten eigenen Eindruck. Dann werden vielleicht auch für mich die Zusammenhänge klarer werden …« Der letzte Teil ist eine Feststellung, im Tonfall liegen gleichzeitig meine Anfrage und die persönliche Bitte.
Es geht rasch. Urs Bäumlin entscheidet, genau so vorzugehen. Formal muss jetzt der Auftrag zu meinem Mandat erteilt werden und das Gericht muss mich akkreditieren. Gegen meine Mandantin besteht kein konkreter Verdacht, noch nicht. Sie gehört einzig zu denjenigen, die sich im direkten Umfeld von zwei oder sogar drei außergewöhnlichen Todesfällen finden. Sie hat sich dem Gericht in den nächsten Tagen zur Verfügung zu halten.
Frau Platen ist willenlos mit allem einverstanden. Hat sie nicht schon bei Felix’ Tod Tabletten geschluckt, Schlaftabletten?
Sie und ich bleiben zurück, warten auf das Eintreffen der Pikettärztin. Eine Sekretärin mit ausdruckslosem Pickelgesicht kommt herein, legt einen Ausdruck der ›Zeugenaussagen von Frau Meret Platen‹ auf den schmalen Tisch. Ich habe seit dem Frühstück noch nichts gegessen und fühle mich entsetzlich hungrig. Ich bemühe mich, Frau Platen nicht anzustarren. Sie wirkt erleichtert, wahrscheinlich, weil ich da bin oder weil Sven und Urs Bäumlin draußen sind. Mir gefällt das Ganze nicht, was ist hier los, was sind die Fakten, hat sie damit zu tun?
»Hier«, sie schiebt mir die Akte zu. »Sie müssen sie lesen, es geht ja nicht nur um meine Aussagen, wobei ich beschwöre, dass jedes Wort, das ich sagte, genau so stimmt. Doch dann kommt es immer darauf an, wer welche Fakten von welcher Seite her zusammenstellt. Es ist alles sehr löchrig. Alles tönt seltsam, abenteuerlich.«
Ich blättere locker im Papier, das man wohl ›abenteuerlich‹ nennen kann: Ich stutze, die Hand aus Knuts Kühlschrank wird nirgends erwähnt. Ganz offensichtlich wird jedoch auf dem Verschwinden des obersten Leiters der Forschungsabteilung der ›Delton Biotec‹ herumgeritten, Yorge Droz, der seit zehn Tagen vor Ostern als verschwunden gelte. Als Leiter der kleinen Forschungsabteilung war Herr Yorge Droz in weiteren Leitungsgremien der Firma tätig. Frau Platen arbeitet für dieses Labor als wissenschaftliche Zeichnerin. Frau Platen bestätigt, dass Herr Droz ihr Liebhaber war, stellt jedoch die Rückfrage, woher ein Kommissar dies weiß und was diese Frage mit seiner Untersuchung zu tun hat. Streng gesehen ist Herr Droz ihr Vorgesetzter. An dieser Stelle erläuterte Sven Dornbier und es wurde protokolliert, dass Meret Platen nicht nur Felix Gamba, sondern auch Yorge Droz als Letzte gesehen und gesprochen hat. Ich stutze, überlege. Da steht, Meret Platen habe diesen Mann als Letzte gesehen, und zwar in ihrem Haus auf ›Holsten‹, das als Orangerie bezeichnet
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