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Todesformel

Todesformel

Titel: Todesformel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Wyss
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ist nicht gleich da, also steige ich neben dem Liftschacht die Treppen hoch, drei Stockwerke und unmöglich breite Stufen. Oben ärgere ich mich über meine hechelnden Atemzüge, stehe still, atme tief durch. Trotz Fitness bin ich immer wieder zu schnell erschöpft, seit Jahren, seit Noëls Geburt. Auf eine halbe Minute im Toilettenraum kommt es jetzt auch nicht an. Hier riecht es nachhaltig nach diesem Ökoputzmittel, ich kann es nicht ausstehen. Im Spiegel mein rotes Gesicht, glänzend, diese Haarsträhnen – das wirkt so richtig wie ›berufstätig und alleinerziehend‹, also inkompetent –, mein Trauma. Noch einmal Kamm, Puder, Lippenstift. Schon bin ich wieder draußen. Wieder eine Glaswand mit Tür, ein Drücker. Die schwere Tür öffnet sich mit einem Summton, schwingt langsam auf, schwerer als Glas, bruchsicher. Ich weiß es von Knut, die Gerichte und Ämter haben überall diese zusätzlichen Schranken errichtet aus Furcht vor Terroristen und vor Bürgern, die durchknallen könnten.
    Schon tritt eine Beamtin aus einer Seitentür, offensichtlich vom Empfang benachrichtigt, führt mich durch den hohen Korridor, sagt, die Einvernahme dauert jetzt schon zwei Stunden. Also hat es Wartezeiten gegeben. Meine Absätze klicken bei jedem Schritt, ich lasse mich nicht irritieren, konzentriere mich auf die kommende Situation. Ich ärgere mich, ich habe keine Ahnung, worum es hier geht.
    Die Einvernahme ist in vollem Gang, wird unterbrochen. Urs Bäumlin als Haftrichter kommt mir entgegen, Begrüßung, fast familiär, wir sind per Du. »Ich bin so rasch wie möglich hergekommen, Frau Berken hat mich darum gebeten.« Er ist kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte, graue 68er-Mähne, jetzt durchlichtet, spitze Nase, etwas scharfe Gesichtszüge, ich denke automatisch ›Leberschaden‹, schmaler, schwarzer Pullover unter grauem Sakko, zerbeulte Hose, ich erinnere mich, irgendeinmal war er verheiratet. Er stellt vor: »Wirz, der Protokoll führende Beamte, Sven Dornbier, der untersuchende Kommissar-Staatsanwalt.«
    Auch Sven steht auf, lächelt formell, wir reichen uns die Hand. »Es freut mich, dich wiederzusehen.« Hellbrauner Sakko aus feinem Wollstoff, schwarze Hose, schwarzes Hemd, schwarze Krawatte, die blonden Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, Architektenlook oder ein Anwalt, der das Milieu vertritt, so schick sieht heute ein Kommissar im Dienst aus. Anscheinend verliere ich allmählich den Anschluss.
    Frau Platen sitzt mit dem Rücken zur Tür, wendet sich erst jetzt sehr steif, gibt mir eine kalte Hand zur Begrüßung, ihr weißer Hals ist rot gefleckt, sie sieht besorgniserregend blass aus. Ich begrüße sie länger, erkläre gleich: »Der Haftrichter und mein geschiedener Mann sind befreundet, darum sind wir per Du, Sven Dornbier ist ein ehemaliger Studienkollege, deswegen auch bei ihm das Du.« Jetzt sollte sie etwas sagen, doch da kommt nichts. Sie hält einfach meine Hand, bemerkt es, schaut mich an, ihre Augen sind gerötet, sorgfältig geschminkt, noch heller als in meiner Erinnerung, gletscherhell. Jetzt sehe ich die ganz feinen Fältchen, sehr gepflegt, sie muss um die fünfzig sein, wirkt wie vierzig; das genaue Alter wird im Protokoll stehen. Sie bemerkt, dass sie noch immer meine Hand hält, sagt leise »Danke«, lässt los.
    Urs Bäumlin ist höflich, gut erzogen, weist mir den Stuhl neben Frau Platen an, er und Sven setzen sich uns gegenüber wieder hin.
    Urs Bäumlin setzt die Verhandlung fort: »Wo stehen wir?«
    Als Erstes bitte ich um eine ausführliche Erklärung, weshalb sich meine Mandantin überhaupt hier befindet, dann um eine Zusammenfassung zum Stand des Gesprächs, es handle sich doch um ein Orientierungsgespräch, um ein Einholen von Informationen? Ob ich mich irgendwo mit Frau Platen allein unterhalten kann?
    Jetzt erst schaue ich sie wieder an. Wie sie dasitzt, mit Haltung zwar, doch so, als säße sie in einem japanischen Theaterdekor, papieren. Die Augen schauen unbeteiligt; sie wirkt benommen, abwesend. Die ist doch gar nicht aussagefähig. Ich verlange eine Pause. »Frau Platen scheint es nicht gut zu gehen, nächstens kippt sie noch vom Stuhl.« Dass sie dazu nichts sagt, bestätigt es. Urs Bäumlin reagiert betroffen, telefoniert nervös, er hätte es bemerken müssen. Sven bringt Entschuldigungen vor, holt ein Glas Wasser, das er vor Frau Platen hinstellt, geht mit langen Schritten zu den Fenstern, reißt einen Fensterflügel auf. Jetzt erst fällt mir auf, hier oben im

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