Todesfrist
auf viele bekannte Namen gestoßen sei.
»… da habe ich mich gefragt, ob du eine Anne Lehner kennst.« Vielleicht hatte er von einem Kollegen erfahren, dass sie entführt worden war. Möglicherweise gab es bei der Kripo bereits eine Akte über sie.
»Nein«, kam seine Antwort wie aus der Pistole geschossen. Er hatte nicht einmal eine Sekunde lang nachgedacht.
»Sie ist eine meiner Klientinnen, und ich dachte, vielleicht …«
»Die ist deine Klientin?«, unterbrach er sie.
Ihr stockte der Atem. Plötzlich wurde ihre Kehle trocken. »Kennst du sie?«
»Nein«, wiederholte er. »Sonst noch was?«
»Nein, danke.«
»Bis später.« Er legte auf.
Die ist deine Klientin?
Warum war er so erstaunt gewesen? Tränen sammelten sich in ihren Augen.
Für Anne – von Frank.
Frank wusste etwas von der Entführung!
Vielleicht hing er sogar mit drin.
10
Sabines Dienst endete am Nachmittag. Normalerweise fuhr sie nach Hause, um einige Stunden zu schlafen, doch sie war zu aufgekratzt, um auch nur ein Auge zu schließen. Also besuchte sie ihre Schwester, die eben von der Arbeit im Museum nach Hause gekommen war. Wieder gab es Tränen. Nach einem kurzen Gespräch fuhr Sabine heim, zog sich um und lief anschließend durch die Münchner Altstadt in die Nußbaumstraße zum Eingang der Gerichtsmedizin. Trotz der Frühlingssonne herrschte in Sabine eine eisige Kälte.
Schräg gegenüber, am Beethovenplatz, lag das Irish Pub, in dem sie bis vor ein paar Monaten nach Dienstschluss mit Simon Kaffee und Bier getrunken hatte, bevor sie zu ihr nach Hause gefahren waren. Nach Simons Heirat war das jedoch vorbei gewesen. Gelegentlich saß sie allein dort.
Ihre Finger wurden kalt, als sie an dem quadratischen, vierstöckigen Neubau des Instituts für Rechtsmedizin hinaufblickte. Irgendwo da drinnen lag der Leichnam ihrer Mutter. Sie hatte keinerlei Berechtigung, das Gebäude zu betreten. Wenn die Münchner Kripo für den Mord an ihrer Mutter zuständig gewesen wäre, hätte sie sich von ihren Kollegen eine Kopie des Autopsieberichts besorgen können. Doch bei einer Ermittlung des LKA war das unmöglich, noch dazu, wenn die Beamten den Verfahrensstand aus dem Computersystem genommen hatten. Dennoch wollte sie es versuchen.
Sabine trat ein. Es roch nach Sterilität und Tod. Sie ging zum Portier, der hinter einer trüben Milchglasscheibe saß. Durch einen Glaskorridor sah sie die Etagen des angrenzenden Innenstadtklinikums. Ein Rettungswagen mit Blaulicht fuhr soeben die Rampe
hinauf. Vor der Eingangshalle schoben Krankenpfleger Patienten in Rollstühlen vor sich her.
»Was kann ich für Sie tun?« Der fette, unrasierte Kerl hinter der milchigen Scheibe trug ein dunkelblaues Hemd mit Krawatte im Paisleymuster mit Schokoflecken. Neben ihm lag eine angebrochene Tafel Schokolade.
Er blickte von seinem Buch auf und sah ihr kurz ins Gesicht, woraufhin sein Blick ungeniert an ihren Brüsten hängen blieb. Sie hasste solche Kerle.
Von Simon wusste sie, dass die Leiche ihrer Mutter letzte Nacht gegen ein Uhr in die Pathologie überstellt worden war. Der alte Knauser, Dr. Hirnschall, hatte Nachtdienst gehabt und ließ für gewöhnlich jeden Toten erst einmal vierundzwanzig Stunden liegen. Aus Prinzip. Aber wenn Staatsanwalt, Erzbischof, Bürgermeister und LKA so viel Druck machten, dass der Fall bald gelöst wurde, arbeitete der Pathologe möglicherweise schon seit den Morgenstunden an der Autopsie. Doch der Kerl mit der Paisleykrawatte, der immer noch auf ihren Busen starrte, würde ihr garantiert nicht erzählen, wie weit Dr. Hirnschall schon war, geschweige denn den Obduktionsbefund rüberreichen.
»Hallo!«
Sabine lehnte sich an das Milchglas und presste ihren Dienstausweis an den Sehschlitz. Der Kerl hob den Blick. »Ich hole die ausstehenden Autopsiebefunde von den drei tschechischen Gastarbeitern, die im Kastenwagen auf der Autobahn verbrannt sind.«
Der Portier legte sein Buch beiseite. Dostojewski stand auf dem Buchrücken. Wer hätte das gedacht?
Dostojewski warf einen Blick auf den Monitor. »Sind noch nicht fertig.« Dann starrte er sie wieder an.
Natürlich waren sie nicht fertig. Ihre Kollegen warteten seit einer Woche auf den Bericht.
»Was?« Sabine spielte die Entrüstete. »Ich bin deswegen nun schon zum zweiten Mal hier! Die Leichen liegen seit einer Woche in der Pathologie, und wir warten auf die Todesursache. Weder
Totenschein noch Freigabeschein der Leichen können ausgestellt werden.«
Dostojewski reagierte
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