Todesfrist
und die Tür hinter sich schloss, öffnete sich die Fahrstuhlkabine. Im nächsten Moment würde Hirnschall um die Ecke biegen. Sie lief zur Feuertreppe. Da hörte sie eine vertraute Stimme mit niederländischem Akzent.
»Meine Zeit ist knapp, Doktor. Fassen Sie den bisherigen Befund in drei einfachen Sätzen zusammen.«
Sabine schoss die Hitze zu Kopf. Maarten Sneijder war hier? Seine metallbeschlagenen Sohlen klapperten über die Fliesen. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sie gleich um die Ecke kommen würden. Im nächsten Augenblick verschwand sie im Treppenhaus und lief ins nächste Stockwerk.
In der Eingangshalle vermied sie es, beim Empfangsschalter des Portiers vorbeizugehen. Sie eilte durch den Glaskorridor in die Klinik und gelangte durch den Hauptausgang auf die Straße. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die Blätter in der Hand vor Hektik zusammengedrückt hatte. Sie strich die Papiere glatt, steckte sie gefaltet in die Jacke und lief die Nußbaumstraße hinunter. Jetzt konnte sie einen starken Kaffee vertragen.
Das Irish Pub am Beethovenplatz war zu dieser Zeit halb voll. Sie saß an einem Nischentisch und blickte aus dem Fenster. Lauter fröhliche Gesichter. Plötzlich stockte ihr der Atem.
Nein! Kaum zu glauben, wer da die Nußbaumstraße runterschlenderte. Simon! Neben ihm eine hochgewachsene Blondine mit Storchbeinen und Stola. Gemeinsam schoben sie einen Doppelkinderwagen. Hast wohl heiraten müssen, dachte sie und blickte ihnen schadenfroh nach, bis sie in einer Seitengasse verschwunden waren. Trotzdem wurmte sie Simons Verhalten. Pfeif auf den Kerl! Konzentriere dich lieber auf den Fall!
Sie legte die elf Blätter des Autopsieberichts vor sich auf den Tisch. Das Programm hatte nur die ausgefüllten Textblöcke ausgedruckt – aber Hirnschall war entgegen seiner Gewohnheit fleißig gewesen.
In der Luftröhre ihrer Mutter steckten ein Tubus und das Ende eines achtzig Zentimeter langen Schlauchs, der in Krankenhäusern für künstliche Beatmung verwendet wurde. In der Totenstarre war das Kiefergelenk unnatürlich weit geöffnet. Sonst befand sich kein Fremdinhalt im Mund. Allerdings war ihre Mutter nicht erstickt, sondern ertrunken – an zwei Litern schwarzer Schreibtinte, die für Füllhalter verwendet wurde. Die gleiche Tinte wie auf dem Boden der Kirche und in dem Eimer neben der Leiche.
Ertrunken!
Nun wusste Sabine endlich, was sie an dem Gesicht ihrer Mutter gestört hatte. Die Nasenflügel waren mit Superkleber verschlossen worden, wodurch die Nase spitz gewirkt hatte. Die Todeszeit wurde mit 19.30 Uhr angegeben. Während Sabine ihren Nichten eine Gutenachtgeschichte erzählt hatte und die beleuchteten Domtürme in der Dämmerung durch das Schlafzimmerfenster zu sehen gewesen waren, hatte ihre Mutter ums Überleben gekämpft.
Wäre ich doch mit Mutter am Freitagabend turnen gegangen! Oder wenn Vater mich wenigstens nach dem Anruf des Entführers verständigt hätte – alles wäre anders gekommen. Möglicherweise hätten sie ihrer Mutter diese Tortur ersparen können. Sabine
wusste nicht, wen sie mehr hassen sollte: ihren Vater oder sich selbst.
Sie wischte sich eine Träne weg und las weiter. Durch den Nadelstich im Nacken war ihre Mutter mittels eines hochkonzentrierten, schnell wirkenden Nervengifts gelähmt worden. Die Details der forensischen Toxikologie standen noch aus. Ebenso die DNS-Analyse von Mischspuren, ob sich Schweiß, Speichel, Blut oder Harn ihrer Mutter mit dem einer anderen Person vermischt hatten. Das Ergebnis des Abstrichs der Mundschleimhaut und der Vaginalschleimhaut würde in frühestens einer Woche vorliegen.
Hirnschall hatte weder Spuren eines Ejakulats noch fremde Hautreste unter den Fingernägeln gefunden, allerdings mindestens achtundvierzig Stunden alte Schürfspuren an Hand- und Fußgelenken festgestellt, die von den Fesseln rührten. Sonst keine Strangulationsfurche oder Würgemerkmale. Urin- und Kotabgang waren zum Zeitpunkt des Todes normal. Zuletzt war noch der Mageninhalt interessant: Während der zwei Tage ihrer Gefangenschaft hatte ihre Mutter nur Wasser getrunken und zwei Salzbrezeln gegessen.
Der Bericht war zu Ende. Sabine ließ die Informationen Revue passieren. Etwas ging ihr nicht aus dem Kopf. Warum Salzbrezeln? Bei dem Gedanken an Brezeln und Tinte klingelte etwas in ihrer Erinnerung, doch sie kam nicht dahinter, was es war.
Sie nippte an ihrem Kaffee und blickte aus dem Fenster. In diesem Moment verließ
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