Todesfrist
Beobachtete er sie? Hörte er ihr Telefon ab? Hatte er ihr Haus verwanzt? Die paranoiden Gedanken überschlugen sich, sodass sie keine Luft mehr bekam. Aber irgendetwas musste sie tun!
Diese Bestie hatte vor, Annes Körper in Einzelteile zu zerlegen. Helen war sicher, dass er es nicht dabei belassen würde. Für jemanden, der einmal diese Grenze überschritten hatte, einen Menschen zu foltern, gab es kein Zurück. Er musste sein Kunstwerk vollenden – bis Anne tot war. Es war nur ein Bauchgefühl, das sich nicht näher bestimmen ließ. Aber falls sie recht behielt, konnte sie Anne nur retten, indem sie das Spiel des Verrückten mitmachte, um Zeit zu gewinnen. Sie musste mehr über ihn herausfinden, in Erfahrung bringen, was er wusste. Außerdem musste sie versuchen, die Kripo heimlich zu verständigen. Allerdings würde sie dadurch Annes Leben gefährden und möglicherweise den Kontakt zu ihrem Entführer verlieren. Das alles war nicht so einfach. Denn da gab es noch ihr persönliches Problem mit der Kripo, das ihr wie ein Mühlstein im Magen lag.
Vielleicht hatte der Verrückte sie deshalb ausgewählt, weil sie bis vor drei Jahren noch als forensische Psychologin für die Kripo tätig gewesen war, den Job jedoch wegen des Falls Winkler hingeschmissen hatte. Dieser Fall hatte alles zerstört, sogar ihre Beziehung mit Ben Kohler. Seither nahm sie keine Kripoarbeit mehr an und konzentrierte sich auf ihre Praxis, wo sie sich auf die therapeutische Schweigepflicht berufen konnte, ohne dass ihr Presse, Gericht und Staatsanwaltschaft das Leben zur Hölle machten.
Sollte sie Bens Kripo-Kollegen anrufen, die sie damals so schmählich hintergangen hatten? Für die war sie immer noch ein rotes Tuch. Eine »Psychotante«, der sie die Schuld für etwas in die Schuhe schieben konnten, was die Kripo verbockt und die Staatsanwaltschaft vertuscht hatte. Das alles wäre nie passiert, hätte
sie energischer auf einen Polygraphentest bei Christoph Winkler bestanden, um zu sehen, ob er log, oder die Kripobeamten zu einer Hausdurchsuchung bei Winkler gedrängt. Dann wären jene fünf Kinder heute noch am Leben, deren Körperteile Christoph Winkler an dreißig verschiedenen Stellen im Wienerwald vergraben hatte – darunter auch Bens Sohn.
Helen ließ den Arm sinken und schaltete ihr Handy aus. Ben konnte sie nicht anrufen. Er würde keine zwei Sätze mit ihr wechseln.
»Mist!«, fluchte sie. Hastig packte sie Annes Akte wieder in den Ordner und verstaute ihn im Regal. In dem abgesperrten Schrank daneben bewahrte sie ihre Gerichtsgutachten auf. Die Akte Winkler war nur noch unvollständig, da sie teilweise konfisziert worden war.
Helen verließ die Praxis und ging durch den Wintergarten ins Wohnzimmer, wo sie den Rubinring in die Schachtel auf dem Bücherregal legte. In fünfzehn Minuten kam ihr nächster Klient. Was sollte sie bis dahin tun? Annes Entführer hatte ihr nicht verboten, ihren Mann anzurufen und mit ihm über Belangloses zu plaudern.
Sie wählte Franks Handynummer, doch er hatte das Telefon ausgeschaltet. Als Nächstes versuchte sie es mit der Nummer seines Dienstzimmers im Gebäude der Staatsanwaltschaft. Ihr Anruf wurde zu seiner Sekretärin umgeleitet. Es kam öfter vor, dass er in einer wichtigen Besprechung war. Die Dame erklärte ihr jedoch, dass Frank heute nicht ins Büro komme, sondern im Golfklub sei.
Wie paralysiert starrte Helen auf das Handy.
Im Golfklub?
Sie erinnerte sich an Franks hastigen Aufbruch heute Morgen und an seine legere Kleidung, das Poloshirt und die Sonnenbrille im Ausschnitt. Warum hatte er sie angelogen? Sie wählte die Nummer des Golfklubs in Maria Enzersdorf, eine Nobelgegend unweit von Grießkirchen. Dort war Frank seit zehn Jahren Mitglied und spielte regelmäßig mit Richter Henrich oder Rechtsanwalt
Seisner. Die Dame am Empfang erklärte ihr jedoch, dass Dr. Frank Berger heute noch nicht im Klub gewesen sei.
Helen ließ sich auf die Couch fallen und starrte auf das Regal, wo die Schachtel mit Annes Ring lag. Aus welchem Grund hatte Frank sowohl sie als auch seine Sekretärin belogen? Wem sollte sie vertrauen, wenn nicht ihm?
Da klingelte ihr Mobiltelefon. Franks Handynummer erschien auf dem Display.
»Du hast angerufen?«, fragte er knapp.
Mit einem flauen Gefühl im Magen fragte sie ihn, wie es im Büro laufe.
»Es geht so, viel zu tun. Was gibt’s?«
Du verlogener Mistkerl!
Sie erzählte ihm, dass sie soeben die Gästeliste für seine Geburtstagsfeier durchgehe und
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