Todesfrist
erstarrten. »Versuchen Sie in meiner Gegenwart nie wieder, lustig zu sein!«
Die Tür öffnete sich. Simon steckte den Kopf herein, die kurzen blonden Haare standen in alle Richtungen. Im nächsten Moment verzog er das Gesicht. Dann blickte er zur Zimmerdecke. Vermutlich suchte auch er den Rauchmelder in diesem zur Opiumhöhle umfunktionierten Zimmer.
»Sie wollten mich sprechen?«
»Wer zum Teufel will schon mit Ihnen sprechen?«, murrte Sneijder mit herablassendem Tonfall. »Bringen Sie mir eine weitere Kanne frischen Vanilletee und sämtliche Unterlagen zu dem Fall Hanna Nemez. Fingerabdrücke, Tatortfotos, Zeugenaussagen, et cetera, et cetera.«
Simon lehnte lässig im Türrahmen. »Das wird schwierig. Die hat das LKA Bayern.« Er hob die Schultern. »Keine Ahnung, wer dort den Fall bearbeitet.«
Obwohl die Situation angespannt war, musste Sabine schmunzeln.
Wie man in den Wald rief, so schallte es bekanntlich zurück. Wer ließ sich schon gern herablassend behandeln?
Sneijder zog an der Zigarette. »Die Pappnasen vom LKA waren wohl kaum am Tatort, oder? Also schwing deine Frisur ins Büro, blonder Junge, und hol mir sämtliche Unterlagen, die es bis jetzt zu dem Fall gibt.«
Sabine zuckte zusammen. »Junge« hatte bisher noch niemand zu Simon gesagt.
Der knirschte mit den Zähnen und verschwand kommentarlos. Sneijder wusste sehr wohl, dass sie in dieser Dienststelle zur Kooperation mit ihm gezwungen waren. Falls alle Profiler beim BKA Wiesbaden so waren, würde Sabine gern darauf verzichten, sich erneut dort zu bewerben. Da schob sie lieber weiterhin mit Simon und Wallner Dienst beim KDD.
»Offensichtlich arbeiten Sie nicht mit den Kollegen vom LKA zusammen«, stellte Sabine fest. »Aus welchem Grund sind Sie hier?«
Sneijder blickte auf seine Armbanduhr, eine dünne Swatch mit rot-weiß-blau gestreiftem Zifferblatt – den Farben der niederländischen Flagge. »Ihre drei Sätze sind zu Ende. Anscheinend können Sie mir nicht mehr sagen. Beantworten Sie mir aber noch zwei Fragen. Wo befindet sich die nächste Haital-Buchhandlung?«
»Wie bitte?«
»Sind Sie schwerhörig?« Er schüttelte den Kopf. »Ich frage mich wirklich, wie Sie es bis hierher geschafft haben.«
Sabine kochte vor Wut. Nicht nur, dass ihre Mutter gestorben war, dieses aufgeblasene Ekelpaket behandelte sie wie eine Göre. Was wollte er bei Haital? Die Buchhandlungskette hatte ein halbes Dutzend Filialen in München. Gleich in der Nähe lag eine – dort kaufte Sabine ihre Hörbücher –, gegenüber der Gerichtsmedizin und dem Irish Pub.
»Also? Wo ist die nächste Filiale?«
»Keine Ahnung«, sagte sie.
»Sie lesen wohl nicht viel«, murrte er. »Letzte Frage: Hatten Sie Kontakt zu dem Entführer?«
»Woher wissen Sie, dass meine Mutter entführt wurde?«
»Woher ich das weiß?« Er kam näher, setzte sich ihr gegenüber auf den Tisch und fixierte ihre Augen. »Weil ich heute um sechs Uhr morgens Ihre Anfrage an Daedalos gesehen habe.«
Sabine schluckte.
»Das war Ihre letzte Abfrage.« Sneijder erhob sich. »Ich habe im Wiesbadener Netz bis auf weiteres Ihre IP-Adresse und Erik Dorfers Zugangscode sperren lassen.«
9
Kurz nach elf Uhr war die Therapiestunde zu Ende. Helen stand am Eingang des ehemaligen Gästehauses und wartete, bis ihr neunjähriger Klient mit seiner Mutter ins Auto gestiegen war.
Sie schloss für einen Moment die Augen. Die milde Mittagssonne wärmte ihr Gesicht, und der Wind strich ihr durchs Haar. Vom Acker wehte ein würziger Duft herüber. Sie hatte während der Sitzung ständig an den Rubinring denken müssen und bekam das Bild von dem abgetrennten Finger nicht aus dem Kopf.
Das ehemalige Gästehaus stand meistens offen. Doch nun schloss Helen die Tür zur Praxis ab. Sicherheitshalber hatte sie bereits vor der Sitzung auch den Haupteingang der Villa zugesperrt, die durch einen Wintergarten mit der Praxis verbunden war. Natürlich flitzte Dusty durch die Hundeklappe rein und raus, was sie ihm nicht verbieten wollte.
Sie betrat ihr Büro, nahm den Rubinring aus der Jeanstasche und ließ sich auf den Drehstuhl fallen. Sie hatte den Ring mit Putzmittel geschrubbt, und nun funkelte er in den Strahlen der Mittagssonne, die durch das Fenster fielen. Falls der Stein echt war, schätzte sie ihn auf etwa vier- bis fünfhundert Euro. Zum wiederholten Male drehte sie den Ring zwischen den Fingern und betrachtete die Gravur an der Innenseite: Für Anne – von Frank. Wer war Anne? Und wer zum Teufel
Weitere Kostenlose Bücher