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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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war Frank? Außer ihrem Mann kannte sie keinen Frank, und der kam wohl nicht in Frage. Frank war schon einmal verheiratet gewesen, allerdings mit einer gewissen Petra Lugretti, einer Richterin für Jugendstraftaten, die etwa in Helens Alter war.
    Vielleicht war der Ring aber auch nur ein Fake? Ein Wortspiel? Anne Frank. Die Schachtel mit dem roten Filz lag im Wohnzimmer
auf dem Bücherregal zwischen Romanen von Paolo Coelho, die Helen noch nicht gelesen hatte. Falls sie die Kripo einschalten würde, konnte die Spurensicherung die Untersuchung der Schachtel vergessen. Mittlerweile waren auf dem Karton nur noch Dustys Speichel und ihre Fingerabdrücke. Das abgetrennte Glied lag in einer Klarsichtfolie im Tiefkühlfach. Das konnte kein Chirurg der Welt mehr annähen.
    Um Antworten zu finden, blieb Helen weniger als eine Stunde. Dann würde der nächste Klient an der Tür läuten. Zuvor musste sie sich mindestens zehn Minuten in den Fall einlesen. Sie starrte auf die Ordner im Schrank und fürchtete sich jetzt schon davor, da ihre Gedanken ständig abschweifen würden.
    Wer war Anne?
    Sie kennen die Person, aber dieser Mensch kennt Sie besser, als Sie ihn zu kennen glauben. So hatte der Verrückte es formuliert. Die Zeit lief ihr davon. Denk nicht an den nächsten Klienten! Konzentriere dich auf Anne …
    Natürlich! Helen fuhr vom Stuhl hoch. Eine ihrer Klientinnen hieß Anne. Sie ging zu dem großen Wandschrank, in dem sie die Ordner mit allen Fällen aufbewahrte, und zog den mit dem Aufkleber L-M aus dem Regal. Hastig blätterte sie durch die gelben Einlageblätter.
    Anne Lehner!
    Die Klientin arbeitete als Verkäuferin in einer Wiener Apotheke. Sie war letzte Woche am Freitag, den 20. Mai, bei ihr gewesen. Anne war etwa fünfundvierzig Jahre alt, schüchtern, introvertiert, trug eine Hornbrille, sah aber dennoch irgendwie hübsch aus. Nur machte sie nicht viel aus ihrem Äußeren. Frank würde sie als typische graue Maus bezeichnen. Dazu kam, dass sie seit Monaten arbeitsunfähig war, weil sie an Darmkrebs litt. Wegen der Chemotherapie trug sie eine Perücke, die jedoch nicht zu ihrem Typ passte.
    Grundsätzlich war Helen auf Missbrauchsfälle bei Kindern und Jugendlichen spezialisiert, aber sie nahm auch Erwachsene mit weniger schweren Problemen. Anne war in ihre Praxis gekommen,
weil sie keine normale Beziehung zu Männern führen konnte. Ständig wurde sie ausgenutzt, was auch daran lag, dass sie sich zu älteren, verheirateten Männern hingezogen fühlte. Ein Elektrakomplex – der weibliche Gegenpart der Ödipus-Variante –, der in Annes Kindheit entstanden war. Sie hatte keine Freundinnen, und Helen war die Erste, die mit ihr über dieses Problem reden konnte.
    Sie blätterte durch ihre Mitschriften. Jetzt erinnerte sie sich. Anne hatte den Ring während der letzten zwei oder drei Monate getragen. Davor nicht. Möglicherweise war er das Geschenk eines aktuellen Verehrers.
    Frank!
    Allerdings hatte Anne ihre Männerbekanntschaften nie beim Namen genannt, sondern immer nur von dem »Familienvater« gesprochen, dem »Bibliothekar« oder dem »Autohändler«. Ein Staatsanwalt war nicht darunter gewesen. Doch einer davon musste Frank heißen.
    Helen dachte an den abgetrennten Finger und daran, welche furchtbaren Schmerzen Anne durchmachen musste. Warum ausgerechnet diese arme, von einer unheilbaren Krankheit gezeichnete Frau? Sie glaubte die Antwort zu kennen. Anne war gutgläubig und eine Seele von einem Menschen. Man konnte sie leicht mit Worten bezirzen, ihren Willen brechen … und sie entführen.
    Seit ihrer ersten Sitzung fühlte sich Helen ihr gegenüber verantwortlich – ein wenig mehr als für eine Therapeutin üblich. Aber vielleicht war alles nur ein Missverständnis? Hastig blätterte sie durch die Stammdaten und fand schließlich Annes Adresse und ihre Telefonnummer. Zunächst rief sie den Festnetzanschluss an. Nach dem zehnten Läuten legte sie auf. Danach wählte sie Annes Handynummer, die sie sich ebenfalls notiert hatte.
    Nach dem zweiten Klingelton aktivierte sich die Mobilbox. Helen zuckte zusammen, als sie die elektronisch verzerrte Stimme des Entführers hörte: »Ich bin im Moment leider verhindert …«
    Dann war die Verbindung tot.
    Helen lief es heiß über den Rücken. Das Scheusal hatte Annes
Mobilbox besprochen. Sie dachte an seine Warnung, dass er Anne Schmerzen zufügen werde, falls sie jemandem davon erzählen oder die Kripo informieren sollte.
    Wie mochte er das erfahren?

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