Todesfrist
die Stufen hoch.
Hastig kroch sie zur Auszugstreppe und spähte durch die Öffnung ins Treppenhaus. Einer der Männer fragte etwas, das sie nicht verstand.
»… ganz oben«, antwortete der andere.
Sabines Herz schlug bis zum Hals. Keine der Stimmen kam ihr bekannt vor. Falls das die Spurensicherer vom LKA waren, musste sie schleunigst verschwinden. Sie knickte das Kuvert mit den Fotos, stopfte es in ihre Brusttasche und kletterte über die Treppe nach unten. Die Wohnungstür ihrer Mutter stand noch offen. Die Plombe des Dauerdienstes, die Simon angebracht hatte, war abgerissen. Sabine holte eine neue aus der Tasche.
Verflucht! Sneijders Ausdrucke lagen noch auf dem Couchtisch. Sie lief ins Wohnzimmer, klemmte sich den zusammengerollten Papierstoß unter die Achsel und verließ die Wohnung. Die Kerle erreichten soeben den dritten Stock.
»Haben die schon die Leute im Haus befragt?«
»Nee.«
Leise drückte Sabine die Tür mit dem aufgebrochenen Schloss zu. Hastig klebte sie die neue Plombe über den Rahmen. Als die
Männer den vierten Stock erreichten, hatte Sabine gerade noch Zeit, auf die erste Stufe der Auszugstreppe zu steigen. Im nächsten Moment erreichten die Ermittler keuchend die Etage.
Sie tat so, als kletterte sie soeben vom Dachboden herunter. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, und noch bevor die Beamten etwas sagen konnten, fragte sie: »Sind Sie die Kammerjäger?«
»Nee«, antwortete der Größere der beiden.
Sabine hatte ihre Jacke so zugezogen, dass weder ihre Dienstwaffe noch ihre Dienstmarke zu sehen waren. »Dieser Scheißmarder treibt uns alle noch in den Wahnsinn!«, fluchte sie. »Irgendwo schlüpft er rein. Seit zwei Wochen liegt ein altes Hühnerei vom Bauernhof in der Falle, aber das Mistvieh geht nicht rein.« Damit klappte sie die Auszugstreppe zu und drückte sich an den Männern vorbei. Sie spürte, dass ihr die Kerle nachglotzten.
Als sie auf der Straße stand und die warme Frühlingsluft inhalierte, sah sie sich um. Zum Glück standen hier keine weiteren Kripobeamten. Sie zog die geknickten Fotos aus dem Kuvert. Insgesamt waren es zwölf Aufnahmen aus zwölf Dienstjahren. Mutters Klassen aus der Kölner Grundschule; drei mal vier Jahrgänge. Die Schrift auf den Rückseiten war verblasst, aber leserlich. Hier hatten die Schüler und Lehrerkollegen unterschrieben.
Als Sabine kurz vor elf in ihre Dienststelle stürmte, lief sie ausgerechnet Kolonowicz in die Arme.
»Verdammt, was machst du hier?«, schnauzte er sie an. »Hast du auf den Ämtern schon alles erledigt?«
»Wo ist Sneijder?«, fragte sie.
Er bekam einen roten Kopf. »Weil du etwas Privates zu erledigen hast, muss Simon die Arbeit allein machen. Das ist zwar okay, aber nun treibst du dich hier herum?«
Sie lief zu den Fahrstühlen. »Ist Sneijder noch hier?«
»Keine Ahnung. Ein Kollege vom LKA war hier und wollte dich sprechen«, rief er ihr nach. »Was zum Teufel geht hier vor?«
»Erkläre ich dir später.« Sie fuhr in die nächste Etage und lief
zum Besprechungszimmer. Schon von Weitem sah sie, dass die Yuccapalmen nicht mehr im Gang standen. Der Raum war leer. Sneijders Computer fehlten. Nur ein riesiger roter Samsonite-Hartschalenkoffer stand neben der Tür. In diesem Moment kam Sneijder aus der nebenan gelegenen Toilette. Sein Gesicht war weiß wie die Wände der Pathologie. Je eine Nadel steckte zwischen Zeigefinger und Daumen in seinen Handrücken.
»Ist Ihnen wieder übel?«, fragte sie.
»Nein, mir geht es prächtig!«, knurrte er. »Ich liebe es zu fliegen, in der Warteschlange vor dem Gate zu stehen, ganz zu schweigen von dem Gedränge im Flugzeug und den engen Sitzen. Und immer kreischt ein Baby in der Reihe vor oder hinter mir.«
Was war er doch für ein zynischer Mistkerl! Sabine drückte ihm die Klassenfotos ihrer Mutter in die Hand. »Ich habe die Namen von Elfriede Nikitschs Schülern und Kollegen mit denen meiner Mutter verglichen. Über einen Zeitraum von zwölf Jahren gibt es fünf Übereinstimmungen: vier Schüler und einen Lehrer.«
Sneijder warf einen Blick auf die Rückseite der Fotos. Sein Blick hellte sich auf. Augenblicklich trat etwas Farbe in sein Gesicht. »Bestellen Sie das Taxi ab, kochen Sie mir eine Kanne Vanilletee, und kommen Sie in einer halben Stunde in mein Büro. Ich muss jetzt ein paar Anrufe erledigen.«
Er knallte ihr die Tür vor der Nase zu.
Dreißig Minuten später betrat Sabine das Besprechungszimmer. Die raumhohen Yuccapalmen standen
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