Todesfrist
unauffindbar. Presse, Staatsanwaltschaft, Bundeskriminalamt und Mordgruppe mussten eine Schuldige finden. Letztendlich wurde Helens Ruf durch einen bühnenreifen Auftritt des Polizeipräsidenten zerstört. Sie quittierte ihren Dienst als forensische Kripopsychologin und wollte nie wieder bei Kriminalfällen hinzugezogen werden. Um die Zusammenarbeit mit Oliver Brandstätter tat es ihr leid. Bens Partner hatte sich während der Schlammschlacht stets loyal zu ihr verhalten. Außerdem hatten ihr Frank und ein befreundeter Anwalt geholfen.
Helen dachte an Annes Entführung. Diesmal würde sie nicht klein beigeben oder sich durch die Kripo zum Sündenbock stempeln lassen. Ihr blieben noch dreiundzwanzig Stunden, um Annes Leben zu retten, und sie hatte eine Idee, wie sie dem Entführer auf die Schliche kommen konnte. Sie schlug Annes Stammdatenblatt auf. Die Adresse lautete Bachallee 33. Das Navi ihres Wagens würde das Haus finden.
In diesem Moment läutete es an der Tür zur Praxis. Es war kurz vor neun Uhr. Helen verließ das Büro und öffnete die Eingangstür zum ehemaligen Gästehaus. Eine alleinerziehende Mutter und ihre fünfjährige Tochter standen auf der Treppe.
»Kommen Sie bitte herein, und machen Sie es sich im Therapieraum bequem. Ich bin in einer Minute bei Ihnen.«
Während die beiden das Haus betraten, ging Helen in Franks Büro. Wenn du es jetzt nicht tust, wirst du später zögern, sagte sie sich.
In Franks Schreibtischlade lag der Bund mit dem ihr unbekannten Haus- und Wohnungsschlüssel. Doch der Tisch war abgesperrt, und Frank hatte seine Aktentasche ins Büro mitgenommen. Helen schob die schwere Marmoreule neben der Brockhaus-Enzyklopädie vom Bücherregal und schleppte sie zum Schreibtisch.
»Wir werden ja sehen, ob du Anne Lehner kennst oder nicht«, fauchte sie und ließ die Skulptur mit voller Wucht auf das Schloss fallen. Die Holzlade splitterte, der Metallzylinder sprang heraus und die Eule schlug einen Riss in den neuen Parkettboden. Helen schob die Lade auf. Der Schlüssel war weg!
Hastig wühlte sie Brieföffner, Bleistifte, Streichhölzer, SIM-Karten und Fingernagelknipser beiseite. Hinter der Kiste Davidoff lag er. Erleichtert holte sie den Bund hervor.
Nach der Therapiestunde würde sie Anne Lehners Wohnung einen Besuch abstatten.
17
Kolonowicz setzte alles daran, den Frieden auf seiner Dienststelle zu bewahren. Daher kochte Simon tatsächlich eine Kanne Vanilletee, die er in Sneijders Büro stellte. Anschließend kümmerte er sich um den Tankstellenüberfall – und zwar allein. Sabine erklärte ihrem Vorgesetzten, dass sie wegen des Todes ihrer Mutter einige bürokratische Wege zu erledigen habe – Besuche bei einem Rechtsanwalt und bei Versicherungen. Sie wusste nicht, ob Kolonowicz ihr das abnahm, auf jeden Fall ließ er sie gehen. Immerhin hatte er ihr gestern schon angeboten, Sonderurlaub zu nehmen.
Sie fuhr zur Wohnung ihrer Mutter in Schwabing-West, betrat das gelbe Backsteinhaus in der Winzererstraße und lief über die Treppe ins Dachgeschoss. Die Spurenermittler vom LKA waren noch nicht hier gewesen. Andernfalls hätte über dem Türschloss eine neue Plombe geklebt.
Die Wohnung ihrer Mutter wirkte einsam und leer. Die abgestandene Luft hing wie der faulige Atem des Todes in jedem Raum. Sabine saß auf der Wohnzimmercouch und blätterte durch Elfriede Nikitschs fünfunddreißigseitige Akte, die Sneijder ihr ausgedruckt hatte. Die achtundfünfzigjährige pensionierte Hauptschullehrerin aus Leipzig war attraktiv gewesen. Blondes Haar, schlanke, sportliche Figur, geschieden und Mutter zweier Töchter. Die ältere Tochter hatte Struwwelpeters Anruf und die verbrannte Haarlocke erhalten. Die Akte enthielt einen Lebenslauf, eine Aufstellung der Hobbys, Interessen und Gewohnheiten, einen detaillierten Bericht über ihre Aktivitäten der letzten zwei Wochen vor ihrer Entführung sowie Zeugenaussagen von Freunden, Verwandten und ehemaligen Kollegen.
Nach einer halben Stunde schlug Sabine die Akte zu. Sie hatte
genug über das Leben der ihr völlig fremden Frau gelesen. Keine Assoziation, kein Geistesblitz. Es gab keine Verbindung zu ihrer Mutter, bis auf die Tatsache, dass die beiden Frauen etwa gleich alt, geschieden und Mutter zweier Kinder gewesen waren. Der Anhang enthielt eine alphabetische Liste mit den Namen ihrer Schüler und aller Lehrerkollegen, mit denen Elfriede Nikitsch zusammengearbeitet hatte. In fünfunddreißig Jahren Berufspraxis kam viel zusammen.
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