Todesfrist
verkauft hatte?
Helen schlug die Mappe zu. Sie hatte den Kripojob hingeschmissen, um sich aus Fällen rauszuhalten, die ihr das Genick brechen konnten. Obwohl sie eine Vertuschungsaffäre und eine der schlimmsten Verleumdungen am eigenen Leib erfahren hatte, war ihr die Entscheidung nicht leichtgefallen. Sie wollte sich mit ihrer Praxis eine kleine Komfortzone einrichten. Was hatte ihr das gebracht? Nun steckte sie mitten in einem Fall von Entführung und Erpressung.
Und die Vergangenheit ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Sie konnte die Zusammenarbeit mit der Kripo nicht mehr lange hinauszögern. Spätestens morgen Abend würde sie Ben treffen. Wie in Trance holte sie den Schlüssel unter der Platzdecke hervor und öffnete den abgesperrten Aktenschrank. Darin lagen ihre Gerichtsgutachten. Die Akte Winkler war von der Staatsanwaltschaft
konfisziert worden. Nur wenige Unterlagen steckten in der dünnen Mappe. Helen zog sie hervor. Obenauf lag der Zeitungsartikel eines Schmierblattes. Die Schlagzeile klang entsetzlich.
Kinder missbraucht, gefoltert und zerstückelt!
Darunter prangte ein Foto von Christoph Winkler, achtundzwanzig Jahre, gut aussehend, Marke: adretter Schwiegersohn. Wie immer sahen diese Kerle harmlos aus. Winkler arbeitete als Sozialarbeiter und war ein charmanter, gebildeter junger Mann. Keine Vorstrafen, vorbildliche Berufsausübung.
Seine Freizeit verbrachte er hin und wieder mit Louis, dem siebenjährigen Sohn seiner Nachbarn. Der Vater des Jungen war Maurer, im Winter meist arbeitslos, und die Mutter lebte von der Fürsorge. Eines Tages wollte Louis nicht mehr in Winklers Wohnung. Gegenüber seinen Mitschülern behauptete er, dass Winkler ihn missbrauche. Doch die Eltern schickten ihn weiterhin zweimal wöchentlich dorthin. Vermutlich konnten sie Winklers Geld gut brauchen.
An einem Abend aber hatte Winkler den Jungen so schwer verletzt, dass Louis über Bauchschmerzen klagte und ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Der Arzt stellte einen Dammriss zwischen Anus und Hodensack fest. Durch den Anusriss gelangten Darmbakterien in die Bauchhöhle. Vierundzwanzig Stunden später war der Junge tot. Das Krankenhaus erstattete Anzeige, das Jugendamt schritt ein, die Staatsanwaltschaft ermittelte, und Helen erstellte fürs Gericht ein Gutachten über Winkler.
Nach vier Gesprächen diagnostizierte sie, dass Winkler ein zwanghafter Vergewaltiger und nur deshalb nie erwischt worden war, weil er zu clever war und ein raffiniertes Doppelleben führte. Helen ließ sogar anklingen, dass die Eltern des Jungen von dem Missbrauch gewusst und von Winkler Geld erhalten hatten. Doch Christoph Winkler war der Sohn von Staatsanwältin Johanna Winkler, und damit begann der ganze Ärger.
Die Staatsanwaltschaft entschied gegen Helens Gutachten. Es kam nicht einmal zu einem DNS-Abstrich, um zu beweisen, ob Winkler den Jungen tatsächlich angefasst hatte. Angeblich befragte
die Kripo den Falschen. Die Ursache für den Tod des Jungen liege in den zerrütteten Familienverhältnissen. Der behandelnde Arzt gab plötzlich zu Protokoll, dass Louis sich den Anusriss beim Spielen selbst zugezogen habe. Bloß ein kleiner Kratzer mit dem Fingernagel; mehr nicht. Louis konnte man nicht mehr befragen, und Christoph Winkler kam frei. Helen wusste nicht, wie viel Staatsanwältin Winkler dafür hingeblättert hatte, aber bestimmt waren einige Leute bei dieser Sache reich geworden.
In den nächsten zwei Jahren verschwanden vier Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren in jener Gegend, in der Winkler wohnte. Das fünfte Kind kam aus einer anderen Gegend: Flo, Ben Kohlers Sohn. Winkler wurde nicht verdächtigt. Warum auch? Helens Gutachten über Winkler war nie vor Gericht gekommen, und ihre Anfragen nach Polygraphentest, Hausdurchsuchung und DNS-Analyse waren konfisziert worden. Dann passierte Winkler ein Fehler. Der Hund eines Försters grub im Wienerwald ein Leichenteil aus. Es war in Zeitungspapier gewickelt. Winkler hatte die Zeitung abonniert. Sein Name und die Zustelladresse standen noch auf dem Etikett, das auf der Rückseite klebte.
Während der Anklage wurde der Fall Louis neu aufgerollt. Plötzlich fragten sich die Medien, wie es sein konnte, dass eine Psychotherapeutin nicht in der Lage war, vor einem mutmaßlichen Täter zu warnen. Das Leben von fünf Kindern hätte gerettet werden können. Helens angebliche Anfragen wegen eines Polygraphentests, einer DNS-Analyse und einer Hausdurchsuchung bei Winkler waren
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