Todesfrist
blickte sich um. Grießkirchen lag im Dämmerschlaf. Die Morgenzeitung steckte schon in der Zeitungsbox. Erleichtert ließ sie die Schultern sinken. Keine weitere Schachtel, kein weiterer abgetrennter Finger. In wenigen Stunden würde sich zeigen, ob Anne Lehner das Spiel des Verrückten überleben sollte.
Dusty sprang aufgeregt an ihr hoch. Sie griff in die Seitentasche der Joggingweste und holte einen Hundekuchen für ihn hervor. »Da, du verfressener Kerl.«
Trotz seines Alters und der zahlreichen Leckerlis war Dusty ein schlanker Hund geblieben. Immerhin jagte er auf den Feldern ständig Mäusen und Hasen hinterher und verfolgte manchmal die Katzen der Nachbarin über die Grundstücke.
Helen ging mit der Zeitung unter dem Arm zur Terrasse. Morgentau lag auf dem Gartentisch und der Sitzfläche des Stuhls. Sie holte ein Kissen aus der Truhe und setzte sich hin. Nebel hing über den Feldern. Warmer Atem stieg vor ihrem Gesicht auf. Sie fröstelte, doch im Moment brauchte sie die kühle, frische Luft, um einen klaren Kopf zu bewahren. Ihr Handy lag auf dem Tisch. Bald würde er anrufen. Sie nippte am Kaffeebecher und überflog die Schlagzeilen der Zeitung, legte das Blatt aber zur Seite, weil sie sich nicht konzentrieren konnte.
In wenigen Stunden würde der Rummel auf ihrem Grundstück losgehen, wenn Partyservice, Show-Koch, Musiker und Fotografen auftauchten. Wie sollte sie diesen Tag an Franks Seite bloß überstehen? Fröhliche Miene zum bösen Spiel machen? Allen Gästen eine treuherzige und glückliche Ehefrau vorgaukeln? Das war nicht ihr Ding. Sie hatte sich noch nie gut verstellen können.
Dusty robbte wenige Meter von ihr entfernt über den Rasen und schnappte nach den feuchten Grashalmen. Heuschrecken sprangen hoch und flogen über die Wiese. Langsam schob sich die Sonne über die Berge. Bis auf das leise Radio war durch die angelehnte Terrassentür kein Laut aus dem Haus zu hören. Frank schlief immer noch seelenruhig im Bett.
Um kurz nach acht läutete das Handy. Obwohl Helen darauf gewartet hatte, zuckte sie zusammen.
Unbekannter Teilnehmer!
Plötzlich steckte ein Kloß in ihrem Hals. Dusty wälzte sich im Gras und ignorierte das Klingeln.
Helen zog das Handy zu sich heran. »Hallo?«
»Guten Morgen, Frau Doktor«, sagte die elektronisch verzerrte Stimme.
Dies war kein guter Morgen …
»Wen habe ich entführt und warum?«, fragte er. »Ihnen bleiben noch dreißig Minuten für die richtige Antwort.«
»Sie haben Rose entführt …«
»Weiter.«
»Sie hat Medizin studiert und arbeitet als Psychotherapeutin.«
»Richtig. Aber warum ist sie in meiner Gewalt?«
»Sie war schwanger, hat ihr Baby aber verloren.«
»Das ist nicht der Grund.«
Helens Herzschlag beschleunigte. »Sie hat ein Verhältnis mit meinem Mann.«
»Das interessiert mich nicht! Kennen Sie die richtige Antwort oder nicht?«
Helens Puls raste. Was zum Teufel wollte er hören? Und dann
brach es aus ihr heraus, bevor sie es stoppen konnte. »Warum sollte ich mir für Rose den Arsch aufreißen, wenn sie mit meinem Mann vögelt? Ist mir doch egal, was mit ihr passiert!«
Am anderen Ende der Leitung blieb es für einen Moment still. Dann erklang die grässliche Stimme wieder. »Es ist Ihre Schuld, wenn die Frau jetzt stirbt. So wie damals … bei den Kindern, deren Tod Sie auf dem Gewissen haben.«
Dieser verfluchte Bastard!
»Auf Wiederhören, Frau Doktor.«
»Warten Sie!«, rief sie.
Dusty blickte irritiert auf.
Schweigen.
»Ich kann den wahren Grund herausfinden«, sagte sie.
»Sie haben dreißig Minuten.«
»Geben Sie mir noch mal vierundzwanzig Stunden. Dann weiß ich alles.«
»Die Spielregeln lauten anders.«
»Zwölf Stunden«, flehte sie.
Er schien zu überlegen. »Rose hat noch acht Finger«, sagte er. »Ich kann ihren Tod um maximal acht Stunden hinauszögern.«
Helen wurde übel. »Okay.«
»Für jede Stunde, die Sie verstreichen lassen, verliert Rose einen weiteren Finger.«
»Das heißt, Sie rufen mich stündlich an?«
Mehrere Gedanken schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie musste Ben Kohler über dieses Gespräch informieren. Er musste mit der Telekom reden, damit die eine Fangschaltung legten, um den Anruf zurückzuverfolgen.
»Nein, so läuft das nicht«, sagte der Mann.
Oh, wie sie diese verzerrte Stimme hasste.
»Sie schalten Ihr Handy nach diesem Gespräch sofort aus, damit sich bei jedem Anruf sogleich Ihre Mobilbox aktiviert«, befahl er.
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