Todesfrist
Grelles Scheinwerferlicht erhellte das Gewölbe. Es stank wie in einem muffigen Vorratskeller nach Pilzen und moderndem Obst. Aber Sabine wusste, dass der Fäulnisgeruch von etwas anderem stammte.
Nach einer Biegung gelangten sie am Ende eines engen Korridors zu einem gemauerten runden Brunnen. Die darüberliegende Holzkonstruktion war im Laufe der Jahrhunderte weggefault. Auf dem Boden stand ein Eimer, an der Wand lehnte die runde Holzabdeckung. Die Spurensicherer der Dresdner Kripo hievten soeben eine Frauenleiche mit einer Seilwinde aus dem Schacht.
Sneijder bedeutete Sabine mit einer knappen Geste, nicht näher zu treten. Aus zwei Metern Entfernung sahen sie zu, wie die Beamten die Leiche neben dem Brunnen auf den Boden legten. Wasser lief von der Toten ab. Der Kripofotograf schoss Fotos, und seine Kollegen begannen mit dem Vermessen. Sabine hatte noch nie eine so grauenhaft zugerichtete Leiche gesehen. Nach dem zweiten Blitzlicht wandte sie den Blick ab.
Sneijder ging in die Hocke, um einen besseren Blick auf die Tote werfen zu können. Er zog das Diktafon aus der Tasche, führte es zum Mund und flüsterte ins Mikro. Sabine stand unmittelbar hinter ihm und hörte jedes Wort.
»Gesicht stark aufgequollen. Sieht aus, als wäre es mit heißem Wasser verbrüht worden. Was davon übrig ist, gleicht zweifelsohne dem Passfoto von Lore Vollmahr. Die beiden Gegenstände, die aus den ausgestochenen Augenhöhlen ragen, sind vermutlich die Stiele zweier Silberlöffel. Der Killer hat die Frau geknebelt, an Händen und Füßen gefesselt … und ziemlich sicher zu einem Zeitpunkt in den Brunnen gestoßen, als sie noch lebte. Ein Sprunggelenk ist verdreht. Offene Knochenbrüche an Oberschenkel und Schienbein…«
Es war erschreckend, wie distanziert und sachlich er seine Beobachtungen festhielt. Sabine blickte kurz zu der ballonförmigen Leiche, nur um den Blick rasch wieder abzuwenden.
»… Ferse und Fußballen vom Wasser stark aufgequollen. Vermutlich liegt sie seit über zwei Wochen in diesem Schacht. Blutspuren an den Lippen. Offensichtlich an inneren Verletzungen gestorben, vielleicht am eigenen Blut erstickt. Höchstens sechs oder sieben Tage tot.« Sneijder beendete die Aufnahme und erhob sich. »Sie sehen blass aus.«
War das ein Wunder? Sabines Magen lag wie ein Mühlstein in ihrem Bauch. Ihr Mund war ausgetrocknet, und sie brauchte dringend frische Luft. Warum musste sie sich auch vorstellen, wie es dieser Frau ergangen war, die einsam und geknebelt tagelang in diesem kalten, feuchten Loch Stück für Stück vor sich hingestorben war? »Ich bekomme so etwas nicht jeden Tag zu sehen«, krächzte sie.
»Ich auch nicht.« Sneijder reichte den Kollegen, die mit Mundschutz und Latexhandschuhen die Tote untersuchten, seine Visitenkarte. »Faxen Sie mir bitte spätestens übermorgen den vorläufigen Obduktionsbericht.«
Sabine glaubte, sich verhört zu haben. Er hatte tatsächlich »bitte« gesagt.
Als sie auf dem Domplatz standen, versank die Sonne hinter den Hausdächern. Sabine schloss für einen Moment die Augen und ließ den Wind über Haare und Gesicht streifen. Sie inhalierte die nach Blüten duftende Luft. Natürlich fegte diese Brise weder den Leichengeruch noch den üblen Gestank der Katakomben aus ihren Kleidern und schon gar nicht aus ihrer Erinnerung. Aber es half.
»Die Verbrennung im Gesicht, der Brunnen, und statt der fehlenden Brille das Besteck in den Augen«, zählte sie auf. »Er steigert sich von Mord zu Mord mehr in die Geschichten hinein.«
»Das ist das Erschreckende daran«, sagte Sneijder. »Aber was
noch schrecklicher ist … Struwwelpeter muss von diesem Schacht gewusst haben, und er war vor Kurzem noch einmal hier.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Wer hätte der Leiche sonst die Löffel in die Augenhöhlen gedrückt?« Er blickte zur Domspitze. Eine Schar Vögel umkreiste das Kreuz. »Wir müssen diesen Carl Boni finden.«
3. Teil
Mittwoch, 25. Mai
»Ich kriege die Welt nicht rund und ganz,
doch stückle ich sie, so gut ich kann.«
WALLACE STEVENS
23
Während ein Espresso aus der Kaffeemaschine lief und die Morgennachrichten aus dem Radio tönten, hastete Helen durch die nasse Wiese zum Briefkasten. Sie hatte auch in dieser Nacht wieder schlecht geschlafen. Um kurz nach fünf war sie schließlich aufgestanden, hatte sich ins untere Stockwerk geschlichen, um Frank nicht zu wecken, und heiß geduscht.
Nun stand sie in ihrem warmen Jogginganzug neben dem Forstweg und
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