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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Psychotherapeutin, die eigentlich darin ausgebildet war, Klienten zu durchschauen. Aber sogar Psychotherapeuten schätzten
Menschen manchmal falsch ein. Außerdem war Rose Harmann selbst eine erfahrene Therapeutin – und offensichtlich eine gute Schauspielerin.
    Eine Großaufnahme von Rose hinter einem Rednerpult interessierte Helen am meisten. Sie studierte die Gesichtszüge dieser facettenreichen Frau. Rose strahlte Eloquenz und Souveränität aus. Aber mit grauer Perücke, Hornbrille, genügend Gesichtspuder und gebückter Haltung würde sie älter wirken und hätte große Ähnlichkeit mit Helens Klientin Anne Lehner.
    Ihre Schlagadern begannen zu pochen, als sie versuchte, sich die fehlenden Puzzleteile zusammenzureimen. Das Emblem auf dem Rednerpult wies auf eine Tagung des Innenministeriums hin. Womöglich erstellte Rose Gerichtsgutachten. Als Staatsanwalt arbeitete Frank eventuell mit Rose gemeinsam an Fällen. So mussten sie sich kennengelernt haben. Schließlich war auch Helen im Zuge ihres Verfahrens auf Frank gestoßen. Vielleicht hatten die beiden schon seit Jahren ein Verhältnis, das sogar länger dauerte als ihre Ehe. Auf den Fotos wirkte Rose nicht wie eine Frau, die sich eine Gelegenheit entgehen ließ.
    Helen konnte sich das Ganze nur so erklären: Als Rose schwanger wurde – beabsichtigt oder nicht –, wollte sie Frank an sich binden. Sie wollte Helen ausbooten und begann in der Verkleidung einer schüchternen, älteren Frau eine Therapie bei ihrer Konkurrentin, um sie auszuspionieren. Wer so raffiniert war, hatte bestimmt jede Menge Feinde. Einer von ihnen schnitt Rose nun Stunde für Stunde einen weiteren Finger ab.
    Dusty kläffte.
    »Schon gut, mein Kleiner.« Helen ging in die Knie und kraulte den Terrier am Hals. »Wir bleiben etwas länger hier. Es beginnt gerade, interessant zu werden.«
     
    Die linke Tür führte in den Therapieraum, ein helles Zimmer mit Couch, Glastisch und Erkerfenster mit Ausblick auf den Park. Vor dem Stuhl lagen Diktafon und Notizblock. Der Wecker wies in die
andere Richtung. Clever! Damit jeder neue Klient instinktiv auf der Couch Platz nehmen würde. Gegenüber lag Roses Büro. Die Tür stand offen. Ebenfalls clever! Damit jeder Klient das Gefühl erhielt, dass Rose keine Geheimnisse vor ihm hatte. Diese Frau war raffiniert.
    Der Therapieraum interessierte Helen nicht. Dusty allerdings schon. Er lief hinein, sprang auf die Couch und streckte sich so lang, als wollte er die gesamte Bank in Besitz nehmen. Im Gegensatz zu ihm fühlte Helen sich unwohl, als sie die Schränke der fremden Küchennische durchsuchte. Schließlich fand sie einen tiefen Teller, den sie mit Wasser füllte und vor Dusty auf den Teppich stellte. Dann betrat sie das angrenzende Büro.
    »Suchen wir deinen Entführer«, murmelte sie und warf einen Blick auf den Stehkalender von Roses Schreibtisch.
    Sie blätterte die letzten Wochen zurück. Insgesamt fand sie an die zwanzig Namen, die kürzlich einen Termin bei Rose gehabt hatten. Im Moment wusste Helen noch nicht genau, wonach sie suchte, aber das würde sich in den nächsten Minuten herauskristallisieren. In den Schränken entdeckte sie zu jedem dieser Namen eine Akte, in die sie einen Blick warf. Kinder und weibliche Klienten schloss sie von vornherein aus. Schon bald kam sie hinter das System, das Dr. Rose Harmann für ihre Ablage verwendete. Die Regalreihe mit den grünen Ordnern enthielt die Fälle jener Klienten mit schwerer Persönlichkeitsstörung ohne Aussicht auf Heilung. Bekanntlich symbolisierte Grün die Hoffnung – möglicherweise war das die Eselsbrücke von Dr. Harmann. Niemals die Hoffnung aufgeben und alles für die Klienten versuchen. Helen wollte sich alle Akten ansehen und öffnete den ersten Ordner mit den krankheitswertigen Störungen mit Beginn in der Kindheit. Ihr Gefühl sagte ihr, sie suchte nach einem Mann zwischen zwanzig und dreißig Jahren mit einem Entwicklungstrauma, der im letzten Halbjahr Sitzungen bei Dr. Harmann genommen hatte.
    Hastig blätterte sie durch die grünen Einlageblätter. Ulf Lange war zweiundvierzig und hatte in seinem Job als Zugführer Autoritätsprobleme
mit seinen Vorgesetzten. Der Wiener Notar Thomas Probst neigte dazu, sich selbst zu verletzen, und der Unternehmensberater Christian Garke brachte seine pädophilen Neigungen nicht unter Kontrolle. Solche Menschen behandelte Rose also auch! Eine innere Stimme sagte ihr jedoch: Diese Männer waren zu alt. Nach zehn weiteren Klienten

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