Todesfrist
entdeckte sie die Akte eines dreiundzwanzigjährigen Automechanikers. Unwillkürlich assoziierte sie mit seinem Nachnamen das französische bon für »gut«. Doch der Vergleich passte nicht. Ein ziemlicher Widerspruch – was Helen in den Mitschriften las, klang nicht besonders gut. Carl Boni war nicht freiwillig zu Dr. Harmann gekommen. Er hatte wegen Kokainbesitzes, Stalkings und Körperverletzung drei Jahre bedingte Strafe erhalten. Allerdings hatte ihm das Gericht Therapie statt Strafe ermöglicht. Hätte Carl auch mit Kokain gehandelt, wäre das nie geschehen. Dieses milde Urteil war sein verdammtes Glück gewesen. Und möglicherweise Roses Pech.
Helen schlug die Akte zu. Einiges sprach dafür, dass Carl Boni das Scheusal war, das Rose entführt und verstümmelt hatte. Sein Hass auf Frauen, seine unfreiwillige Therapie und sein Stalking-Verhalten passten wie Puzzlesteine ins Bild – doch insgesamt war das nichts weiter als eine leise Vermutung. Zu wenig, um damit den Ansagetext ihrer Mobilbox zu besprechen. Im Prinzip musste sie sich eingestehen, genauso wenig zu wissen wie vorher.
Aus dem Nebenraum drang Dustys leises Schnarchen. Sie setzte sich zu dem Terrier auf die Couch und streichelte seinen Hals. Er wälzte sich im Schlaf auf den Rücken und streckte alle viere von sich.
Nach einer Weile erhob sie sich und betrachtete den Therapieraum. Fachliteratur über Logotherapie, Schallplatten von Miles Davis und Duke Ellington, jede Menge Bar-Jazz-CDs und Romane aus Beat-Zeit und Drogen-Ära. Etwas älter, und Rose Harmann wäre eine typische Vertreterin der Siebzigerjahre gewesen, die gegen den Trend der Gesellschaft lebte. Im Prinzip hätte Helen diese Frau sogar sympathisch finden können, gäbe es da nicht ihre
Falschheit und Hinterlist. Damit war sie in ihren Augen nur eine karrieregeile, eifersüchtige und sexbesessene Hexe, die anderer Leute Leben zerstörte.
Bevor sie den Raum verließ, um weiter das Büro zu durchsuchen, fiel ihr Blick auf die Kommode. Dort lag ein aufgerissenes Kuvert. Zwar fehlte der Brief, aber der Empfänger klang interessant. Das Schreiben war an Richterin Petra Lugretti adressiert. Helen kannte sie. Sie war Franks Exfrau und früher für Jugendstraftaten zuständig gewesen. Unter dem Kuvert lag ein leeres Standardformular zur Beurteilung einer laufenden Therapie. Nur der Name des Klienten war eingetragen: Carl Boni. Die Zusammenhänge verdichteten sich.
Auf der Kommode stand außerdem ein Weinglas mit rosa Lippenstiftabdruck. Helen roch daran. Aperol. Okay, was sagte ihr das? Rose Harmann wollte einen Brief ans Gericht verfassen, mit einem Gutachten oder einer Stellungsnahme zur Therapie von Carl Boni – was auch immer. Aber offensichtlich war dieses Schreiben nie abgeschickt worden. Wie es schien, hatte Petra Lugretti den Klienten an Rose verwiesen. Möglicherweise hatte Rose schon früher mit Richterin Lugretti zusammengearbeitet und über sie deren Exmann Frank kennengelernt. Es gab viele Möglichkeiten. Die Welt war klein!
Vergiss Frank jetzt einmal, ermahnte sie sich. Konzentriere dich auf Carl Boni! Vielleicht ist er gar nicht der Richtige!
Helen ging ins Büro zurück und schlug noch mal Carls Akte auf. Im Übersichtsblatt fand sie das Datum von seinem letzten Besuch: Freitag, 20. Mai. Helen wurde kalt ums Herz. Die Sitzung musste drei Tage vor Harmanns Entführung stattgefunden haben. Am selben Tag war sie verkleidet als Anne Lehner bei ihr gewesen.
Helen blätterte zu Roses Notizen. Dr. Harmann war nicht die erste Therapeutin gewesen, die eine Zusammenarbeit mit Carl versucht hatte – aber die bisher erfolgreichste. Ihren Kommentaren zufolge hielt Dr. Harmann nichts von bloßer Symptombehandlung, sondern bevorzugte langfristige Methoden. Sie wollte
zum Kern von Carls Persönlichkeitsstörungen durchdringen und ihm die wahren Ursachen seines Verhaltens bewusst machen. Ein riskanter Weg. Harmanns handschriftliche Bemerkungen zeigten, dass der Fall Carl Boni ebenso interessant wie gefährlich war. Möglicherweise befand sich deshalb die Notiz TB unter der Rubrik Methode. Harmann hatte die Sitzungen auf Tonband aufgezeichnet!
Helen spürte, sie war auf der richtigen Spur. Normalerweise wurden nur von schwierigen Sitzungen oder für heikle Gerichtsgutachten Tonbandaufzeichnungen erstellt. Sie riss alle Schubladen und Schränke auf. Schließlich fand sie eine Box mit schmalen Kassetten für ein Diktafon. Insgesamt entdeckte sie neun Kassetten mit den Aufzeichnungen
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