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Todesinstinkt

Todesinstinkt

Titel: Todesinstinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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kannst du es uns immer noch erzählen.«
     
    D och am nächsten Tag war der Junge noch weniger gesprächig. Oktavian quartierte sich in einem bescheidenen, aber untadeligen Hotel in Manhattan ein und zog erste Erkundigungen zum Aufbau eines Mietwagenbetriebs ein. Am Abend verabschiedeten sie sich von ihm und nahmen den Zug nach Boston.
    Während die Bahn leise nach Norden tuckerte, rieselte draußen vor dem Fenster leichter Schnee herab.
    Colette wandte sich an ihren Bruder. »Luc, jetzt wäre doch eine gute Gelegenheit.«
    Der Junge schüttelte den Kopf.
    »Du kannst es mir ins Ohr flüstern, wenn dir das lieber ist.«
    Younger schaltete sich ein. »Quatsch. Er kann nicht flüstern. Er ist doch kein Kind mehr. Er hat einen Krieg überlebt, er hat uns das Leben gerettet. Du bist ein Mann, Luc, kein kleines Mädchen. Schluss mit dem Unsinn, mach endlich den Mund auf.«
    Luc runzelte die Stirn. Er wirkte betroffen – und unentschlossen.
    Younger nahm einen Brief aus der Jacke. »Das ist ein Schreiben von Dr. Freud. Du hast doch Vertrauen zu Dr. Freud, oder?«
    Luc nickte.

    »Er warnt uns davor, dass du in Amerika vielleicht wieder verstummst. Er meint, du wirst dir vielleicht Sorgen machen, dass deine Schwester nicht hören will, was du zu sagen hast.«
    Luc starrte Younger unverwandt an.
    »Wir sollen dich in seinem Namen daran erinnern, dass er den Leuten schon seit dreißig Jahren erzählt, was sie nicht hören wollen. Und dass es nur ganz selten ein guter Grund für Schweigen ist, bloß weil jemand die Wahrheit nicht hören möchte. Außerdem ist er überzeugt, dass deine Schwester hören will, was du zu sagen hast.«
    Luc richtete den Blick auf Colette. »Stimmt das?«
    »Auf jeden Fall«, antwortete sie.
    »Du weißt doch gar nicht, worum es geht.«
    »Gleich, was es ist, ich will es hören.«
    »Nein, das willst du nicht.«
    »Doch.«
    »Nein.«
    »Doch.«
    Younger ging dazwischen. »Großartig. Der Junge redet zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder, und ihr streitet euch wie kleine Schulkinder.«
    »Vater war ein Feigling.« Lucs Äußerung war schlicht und eindeutig.
    Colette zuckte zusammen und spannte die Finger an. »Vater? Ein Feigling?«
    Der Junge betrachtete die schmelzenden Schneeflocken an der Fensterscheibe. »Ich war beim Haus, als die Deutschen gekommen sind.«
    Ein Schatten zog über das Gesicht seiner Schwester. »Du meinst ...«

    »Ja.«
    »Aber wir ...«
    Er schnitt ihr das Wort ab. »Waren im Keller des Zimmermanns. Ich bin in der Nacht nach oben gestiegen. Du hast mich nicht gehört. Ich bin zurück zu unserem Haus gegangen und habe durchs Fenster neben dem Schuppen geschaut. «
    Colette rührte sich nicht mehr. Möglicherweise atmete sie nicht einmal.
    »Deutsche Soldaten waren bei Vater. Drei. Einer von ihnen groß, mit blonden Haaren. Weißt du noch, wo sich Mutter und Großmutter versteckt hatten?«
    »Ja.«
    »Vater hat immer wieder gerufen: ›Bitte bringt mich nicht um, bitte bringt mich nicht um.‹ Dann hat er geweint. «
    »Deswegen ist er noch lange kein Feigling«, entgegnete sie.
    »Vater hat auf den Schrank gedeutet. Wahrscheinlich wollte er den Deutschen zeigen, wo das Silber ist. Sie haben den Schrank geöffnet, aber das Silber war ihnen egal. Sie haben sich umgedreht und Vater angeschrien. Der Große hat mit dem Gewehr auf ihn gezielt. Vater hat um sein Leben gefleht.« Ratternd ging der Zug in eine Kurve. »Dann hat Vater auf den Teppich gedeutet.«
    »Das hast du gesehen?«
    »Er hat hingedeutet, dann ist er aufgestanden und hat ihn weggezogen, damit die Deutschen die Falltür entdecken. «
    Colette schwieg.
    »Sie haben sie aufgemacht. Sie haben Mama gefunden.
Und Nana. Sie haben Mama ins Gesicht geschlagen. Dann hat der Große auf Vater geschossen. Ein anderer hat auf Nana geschossen.«
    »Und was hast du getan?« Ihre Stimme war fast unhörbar.
    »Ich bin ins Haus gelaufen. Mama hat geschrien. Sie haben sie auf den Boden gedrückt und an ihrem Kleid gezerrt. Einer von den Deutschen hat mich niedergeschlagen, glaube ich. Dann erinnere ich mich an nichts mehr. Am nächsten Morgen ...«
    »Schon gut.« Colette nahm ihren Bruder in die Arme und schloss die Augen. »Ich weiß.«
    »Ich wollte nichts sagen.« Luc zitterte.
     
    A uf der Weiterfahrt wechselten sie kaum ein Wort. Colette blieb einsilbig. Younger hatte Freuds Brief wieder eingesteckt, den er ihr noch nicht gezeigt hatte. Daher hatte sie weder die kleine gefaltete Notiz gesehen, die Freud dazugelegt hatte, noch

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