Todesinstinkt
auf, wie Frauen sie mögen. Kurz gesagt war der Arzt in seiner
Erscheinung markanter als der Detective, aber auch weniger liebenswürdig.
»Wie läuft’s in der Arbeit?«, erkundigte sich Younger.
»Gut.« Der Zahnstocher zwischen Littlemores Lippen wippte.
»Familie?«
»Der Familie geht’s gut.«
Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden war erkennbar. Younger hatte im Krieg gekämpft, Littlemore nicht. Unmittelbar nach der Kriegserklärung im Jahr 1917 hatte Younger die Praxis in Boston und die wissenschaftliche Forschung in Harvard aufgegeben und sich freiwillig gemeldet. Das hätte auch Littlemore getan, wenn er nicht für seine Frau und derart viele Kinder hätte sorgen müssen.
»Schön«, meinte Younger.
»Wollen Sie es mir erzählen«, fragte Littlemore, »oder muss ich die Brechstange auspacken?«
Younger rauchte. »Die Brechstange.«
»Sie rufen mich nach so langer Zeit an und sagen mir, dass Sie mir was sagen müssen, und jetzt wollen Sie es mir nicht sagen?«
»Hier haben sie doch die große Siegesparade veranstaltet, oder?« Youngers Blick strich über die grünen Pflanzen, die Monumente und den Zierbrunnen des Madison Square Park. »Was ist mit dem Bogen passiert?«
»Abgerissen.«
»Warum sind die Männer so bereitwillig in den Tod gezogen? «
»Welche Männer?«
»Vollkommen sinnlos. Aus evolutionärer Sicht.« Younger
wandte sich Littlemore zu. »Nicht ich muss mit Ihnen reden, sondern Colette.«
»Die Frau, die Sie aus Frankreich mitgebracht haben?«
»Sie müsste gleich hier sein. Wenn sie sich nicht verlaufen hat.«
»Wie sieht sie aus?«
Younger überlegte kurz. »Hübsch.« Kurz darauf fügte er hinzu: »Da ist sie.«
Ganz in der Nähe auf der Fifth Avenue hielt ein Doppeldeckerbus. Als Littlemore sich umwandte, wäre ihm fast der Zahnstocher aus dem Mund gefallen. Eine junge Frau in einem schmalen Trenchcoat kam die äußere Wendeltreppe herab. Die zwei Männer empfingen sie, als sie ausstieg.
Colette Rousseau küsste Younger knapp auf beide Wangen und streckte Littlemore einen schlanken Arm entgegen. Sie hatte grüne Augen, anmutige Bewegungen und langes, dunkles Haar.
»Sehr erfreut, Miss.« Der Detective hatte sich wieder einigermaßen erholt.
Sie musterte ihn. »Sie sind also Jimmy Littlemore. Der beste und tapferste Mann, den Stratham je kennengelernt hat.«
Littlemore blinzelte. »Das hat er gesagt?«
»Ich habe ihr auch verraten, dass Ihre Witze nicht lustig sind«, ergänzte Younger.
Colette wandte sich an den Arzt. »Sie hätten zur Radiumklinik mitkommen sollen. Sie haben dort ein Sarkom geheilt. Und ein Rhinosklerom. Wie kann ein kleines Krankenhaus in Amerika zwei ganze Gramm Radium haben, wenn es in ganz Frankreich nicht einmal ein Gramm gibt?«
»Ich wusste gar nicht, dass man ein Rhinozerosaroma heilen kann«, bemerkte Littlemore.
»Wollen wir mittagessen?«, fragte Younger.
W o Colette aus dem Bus gestiegen war, hatte sich noch vor wenigen Monaten ein dreifacher Triumphbogen über die gesamte Fifth Avenue gespannt. Im März 1919 jubelte eine riesige Menschenmenge den heimkehrenden Soldaten zu, die durch das römische Bauwerk marschierten, das errichtet worden war, um den Sieg der Nation im Großen Krieg zu feiern. Bänder flatterten, Ballons stiegen empor, Kanonen salutierten, und – da die Prohibition noch nicht begonnen hatte – Korken knallten.
Aber die Soldaten, denen dieser Heldenempfang beschert wurde, mussten am nächsten Tag feststellen, dass die Stadt keine Arbeit für sie hatte. Auf den Kriegsboom folgte der Nachkriegseinbruch. Die soeben noch überlasteten Fabriken vernagelten ihre Fenster. Läden schlossen. Der Ein- und Verkauf kam zum Stillstand. Verarmte Familien verloren ihr Heim und landeten auf der Straße.
Eigentlich hätte der Siegesbogen aus reinem Marmor bestehen sollen. Doch da man sich diese Verschwendung nicht mehr leisten konnte, errichtete man ihn stattdessen aus Holz und Gips. Die Witterung ließ die Farbe abblättern, und der Bogen verfiel. Noch ehe der Winter vorbei war, wurde er abgerissen – und ungefähr zur selben Zeit war auch das Land ausgetrocknet.
Die Erinnerung an den monumentalen, strahlend weißen und mittlerweile verschwundenen Bogen verlieh dem Madison Square etwas Geisterhaftes, das in Colette widerzuhallen schien. Sie drehte sich sogar um, um zu erkennen,
ob jemand sie beobachtete. Aber sie wandte sich in die falsche Richtung. Sie blickte nicht über die Fifth Avenue, wo hinter den rasenden
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