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Todesinstinkt

Todesinstinkt

Titel: Todesinstinkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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den letzten Absatz gelesen:
    Auch Mademoiselle Rousseau verschweigt ihrem Bruder etwas. Ich ahne, worum es sich handelt, aber es steht mir nicht zu, es auszusprechen. Wenn die Zeit dafür gekommen ist, wird sie es Ihnen bestimmt sagen, und dann geben Sie ihr bitte die beigefügte Notiz.
    Mit besten Grüßen
    Freud
    N achdem sie in Youngers Haus in Boston eingetroffen waren und Luc zu Bett gebracht hatten, gingen sie in das Schlafzimmer. Sie ließ sich von ihm entkleiden, was er
gerne tat. Dann zog er sein Hemd aus, und der dicke weiße Verband um seine Brust kam zum Vorschein.
    »Hast du Schmerzen?«, fragte sie.
    »Nur beim Atmen.« Er machte eine Pause. »Ein Scherz. Ich spüre gar nichts mehr.«
    »Kannst du?«, flüsterte sie.
    Er konnte. Kurz darauf musste sie sich seine Hand auf den Mund pressen, um Luc nicht aufzuwecken. Sie bohrte ihm die Fingernägel in die Arme. Er glaubte, ihr wehzutun, doch sie bat ihn, nicht aufzuhören.
    Viel später kam ihre leise Stimme aus dem Dunkeln. »Ich wollte auch nichts sagen.«
    »Du hast gewusst, was dein Vater getan hat?«
    »Ja«, hauchte sie.
    »Hast du es auch beobachtet?«
    »Nein. Vater hat es mir erzählt. Am Morgen. Er hat noch gelebt, als wir sie gefunden haben. Er hat mir alles gestanden. Und mich angefleht, ihm zu verzeihen.«
    Eine Uhr tickte.
    »Ich habe ihm nicht verziehen«, setzte sie hinzu. »Ich konnte nicht. Dann war er tot.«
    Younger spürte ihre Tränen auf der Brust.
    »Gott steh mir bei«, flüsterte sie. »Ich habe meinem eigenen Vater nicht verziehen.«
    »Die Älteren tragen immer die größte Last«, sagte Younger.
    »Jetzt weißt du es.« Sie wischte sich über die Augen. »Jetzt kennst du mein allerletztes Geheimnis.«
     
    A ls er im Morgengrauen sein Hemd zuknöpfte, stellte ihm Colette, die noch im Bett lag, eine Frage: »Habe ich alles falsch gemacht?«

    »Ich habe was für dich«, antwortete er. »Von Freud.«
    Er reichte ihr die Notiz. Sie setzte sich auf und zog die Bettdecke über die Brust. Lange Zeit starrte sie auf den Zettel, ehe sie ihn wieder zurückgab.
    Meine liebe Mademoiselle Rousseau, wenn Sie diese Zeilen lesen, bedeutet dies, Sie haben Younger verraten, dass Sie von dem betrüblichen Verhalten Ihres Vaters wussten, ehe Ihnen Ihr Bruder davon erzählt hat. Gehen Sie nicht zu hart mit Ihrem Vater ins Gericht. Ein Mann darf nicht danach beurteilt werden, wie er handelt, wenn er mit der Waffe bedroht wird.
    Und auch sich selbst sollten Sie nicht verdammen. Sicher, wenn Sie es Ihrem Bruder verraten hätten, hätte sich sein Zustand vielleicht früher verbessert. Doch er hätte sich im Gegenteil auch verschlimmern können. Tatsache ist, dass Sie beide einander vor einer Wahrheit schützen wollten, die Ihnen beiden schon bekannt war. Das ist nicht tragisch, sondern höchstens ironisch. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass Ihr Bruder einen Groll gegen Sie hegt. Das ist ganz natürlich. Vielleicht hatte er eine Abneigung gegen Sie oder glaubte es zumindest, weil Sie (wie er annahm) sein Wissen nicht teilten und ihn damit zwangen, es geheim zu halten. Kinder erwarten von Erwachsenen, dass sie ihr Wissen teilen, und wenn wir sie darin enttäuschen, sinken wir in ihrer Achtung. Aber selbst als Erwachsene empfinden wir Geringschätzung für jene, denen wir die Wahrheit verschwiegen haben, um sie zu schonen, und wir grollen denen, für die wir die größten Opfer gebracht haben. Falls Sie daher jetzt unentschlossen sind, ob Sie Ihrem Bruder sagen sollen, dass Sie sein Geheimnis die ganze Zeit schon kannten, so wissen Sie, welchen Rat ich Ihnen geben würde.

    Eine Sache möchte ich noch erwähnen. Sie haben sich in meiner Gegenwart gefragt, warum Sie den Mann, der Ihre Eltern ermordet hatte, nicht getötet haben. Allein aus dieser Tatsache habe ich erschlossen, was Sie verbargen. Der Grund dafür ist ganz einfach. Auch wenn es Ihnen nicht bewusst war, hatten Sie das Gefühl, das Andenken Ihres Vaters zu beleidigen, wenn Sie getan hätten, wozu ihm der Mut gefehlt hat. Sie wurden von Großmut für Ihren Vater bewegt, nicht von Großmut für den Mörder. (Dies veranlasst mich zu der Vermutung, dass Sie meinen, Ihrem Vater irgendwann Unrecht getan zu haben. Allerdings kann ich nicht erkennen, worin dieses Unrecht bestanden haben soll.) Zum Glück hatten Sie zu diesem Zeitpunkt einen Mann bei sich, der nicht unter Ihren Skrupeln litt. Wenn Sie nur halb so klug sind, wie ich annehme, werden Sie das Werben dieses Mannes kein zweites Mal

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