Todesläufer: Thriller (German Edition)
aber zwischen den Wellen nicht entdeckt. Nach einer Weile war die Suche aufgegeben worden, und das Motorgeräusch hatte sich im Süden, in Richtung der Bucht von New York, verloren.
Wie weit mochte sie inzwischen geschwommen sein? Eineinhalb Kilometer? Vielleicht zwei? Gott sei Dank hatte das Schlauchboot sie der Küste ein gutes Stück näher gebracht, bevor sie gezwungen war, ins Wasser zu springen. Sie hätte unmöglich die ganze Strecke bewältigen können, wie gut trainiert sie auch immer sein mochte. Das Meer vor Long Island war etwas gänzlich anderes als das glatte gechlorte Wasser im Schwimmbad. Der Ebbstrom sog an ihr, riss sie bei jedem Armzug oder Beinschlag mit unglaublicher Gewalt zurück, immer wieder drohte sie in die Tiefe gezogen zu werden.
Als sie das Ufer schließlich fast erreicht hatte, wäre sie beinahe gegen einen der riesigen steinernen Wellenbrecher geschleudert worden, die man weit ins Meer hinaus gebaut hatte, um den Strand und die dahinter liegenden Häuser zu schützen. Unter Aufbietung aller Kräfte gelangte sie schließlich an Land.
Schwer atmend blieb sie mehrere Minuten reglos liegen, bis sie die Kraft hatte aufzustehen.
Ich lebe, verdammt … Ich lebe.
Im Licht des Mondes war weit und breit niemand zu sehen. Sonnenschirme und Umkleidekabinen ließen erahnen, dass dieser Strand an schönen Tagen um einiges belebter war als der von Staten Island. Atlantic Beach Club stand auf einem Schild weiter oben am Eingang zu einem abgetrennten privaten Schwimmbad.
Offenkundig war die Saison vorüber. Die Herbstkälte hatte die Touristen vertrieben, und auch die letzten verbliebenen Sommergäste schienen keine große Lust mehr zu haben, nach Einbruch der Dunkelheit am Strand Gitarre zu spielen, sich Spieße mit gerösteten Marshmallows in den Mund zu stecken, die gute Luft zu genießen und miteinander zu tändeln.
Sie ging daran, ihren Rucksack auszupacken, dessen Inhalt dank einer verschweißten Kunststoffhülle trocken geblieben war. Mit den Nägeln riss sie sie auf und entnahm ihr, was sie brauchte. Als Erstes machte sie ihre Schulter frei, sah sich die Wunde an, die, ganz wie sie vermutet hatte, nur oberflächlich war, und versorgte sie mit dem Material aus der kleinen Verbandtasche: Desinfektionsspray, Mull, Pflaster. Das absolute Minimum.
Anschließend zog sie sich vollständig aus. Die sonderbare Situation, wie sie da nackt am Strand stand, als wollte sie in galanter Gesellschaft ein mitternächtliches Bad nehmen, ließ ein Lächeln über ihr Gesicht huschen.
Als ihr der vom Atlantik herüberwehende Wind eiskalt in die Glieder fuhr, zog sie rasch die Kleidungsstücke an, die sie dem Rucksack entnommen hatte. Sie passten genau und waren nahezu faltenlos, obwohl sie verpackt gewesen waren. Ihr langes Haar fasste sie zu einem Knoten zusammen, befestigte ihn mit einem Haargummi und setzte sich die Schirmmütze auf.
Fertig.
Sobald sie ihre nassen Sachen im Sand vergraben und eine Schmerztablette genommen hatte, um nicht ständig an die Wunde erinnert zu werden, machte sie sich, einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, mit schwerem Schritt ins Innere der Insel auf. Unübersehbar waren die hinter ihr liegenden Strapazen nicht folgenlos geblieben, denn bei jedem größeren Sandhaufen geriet sie ins Stolpern.
Noch zweihundert Meter schweres Gelände, dann hatte sie den festen Boden von The Plaza unter den Füßen, einer kurzen Allee mit einem Mittelstreifen, die bis zur Atlantic Beach Bridge führte. Von dort ging es, wie sie es sich beim Kartenstudium im Vorfeld eingeprägt hatte, geradeaus bis zur State Route 878, der Hauptverkehrsader, die in die Stadt führte.
Obwohl es noch nicht besonders spät war, wirkte der Wohn- und Badeort wie ausgestorben. In den wenigsten Häusern war Licht zu sehen. Vermutlich waren die meisten nicht das ganze Jahr über bewohnt, und nur manche wurden eingehütet oder beherbergten saisonbedingt arbeitslose Strandpächter.
Während sie durch die leeren Straßen ging, überprüfte sie den Inhalt ihrer Taschen. Als Erstes holte sie eine kleine, rechteckige Plastikkarte hervor. Der Ausweis war so erstklassig gefälscht, dass er echter als echt aussah.
EUROPÄISCHER
SCHRITTMACHERAUSWEIS
Name: Sophie Renouard
Datum der Implantation: 11/10/2010
Art der Stimulation: linke Herzkammer
Marke des Schrittmachers: Alano
Modell des Schrittmachers: Life G+
Im Notfall zu benachrichtigen: . . . . . . . . . . .
Aus der aufgesetzten Tasche ihrer Hose nahm sie ein
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