Todesläufer: Thriller (German Edition)
zeigte zum Aufzugschacht.
»In fünf Minuten müssen wir im Roosevelt sein. Keine Minute später. Go! Go! Go! «
Reflexartig hob Henriksen seinen Funkwellengenerator mit an, hielt ihn gleichmäßig auf Höhe des reglosen Körpers und begleitete so den kleinen Tross zum Ausgang. Auch wenn das Herz stillstand, war das nötig, solange der Schrittmacher nicht endgültig außer Funktion gesetzt war. Es war die einzige Möglichkeit, das Auslösen des Mechanismus mit Sicherheit zu verhindern.
In Sams Tasche klingelte das Telefon. Benton.
Einen günstigeren Augenblick konnte der sich nicht aussuchen …
»Was gibt’s, Francis?«
»Die Israelis haben endlich einer Durchsuchung der Räume von Med’Israel zugestimmt.«
»Und?«
»Ohne Ergebnis. Die Geschäftsführer haben was von einem palästinensischen Aktivisten erzählt, der in ihrem Lager gearbeitet und angeblich versucht hat, Herzschrittmacher zu stehlen. Sie hätten ihn aber schon vor ewigen Zeiten auf die Straße gesetzt.«
»Wie lange ist das her?«
»Mindestens drei Jahre.«
Grace ist tot … Grace ist tot … Grace ist tot …! Es gelang ihm nicht, an etwas anderes zu denken. Er hörte kaum, was der andere sagte. Am liebsten hätte er ihm das Einzige zugebrüllt, das wirklich zählte: Grace … ist … tot.
Ein Teil von ihm verlor sich, wie im Mahlsand, zwischen diesen drei Wörtern und wurde hinabgezogen; der andere Teil fuhr fort zu handeln, schien den Schmerz kaum zu spüren. Zwischen dem Vater und dem Polizeibeamten stand auf einmal eine hermetische Trennwand.
Er konnte sich nicht einmal darüber aufregen, dass Greg es für richtig gehalten hatte, statt seiner zuerst Benton vom Ergebnis der Durchsuchung in Haifa in Kenntnis zu setzen.
»Stimmt was nicht?«
»Nein … Nein, schon in Ordnung.«
»Also dann«, fuhr der FBI -Mann fort, ohne zu merken, wie tonlos Sams Antwort geklungen hatte, »die Männer von der Küstenwache haben Zahra Zerdaoui knapp verpasst. Aber ich glaube, ich weiß, wohin sie will, und vor allem, auf wen sie es abgesehen hat.«
Nachdem Sam das Telefon eingesteckt hatte, nahm er seine Lederjacke an sich. Dabei fiel der Notizblock aus rosa Haftnotizen heraus.
»Hat jemand einen Stift?«
Eine Hand reichte ihm das Gewünschte. Er kritzelte einige Worte auf das oberste Blatt, löste es ab und klebte es seiner Tochter an die rechte Seite, die nicht von Blut verschmiert war.
Komm zurück, Kleines
Treffpunkt Tiles
Lautlos schlossen sich die Aufzugtüren. Sie war verschwunden, von den darunter liegenden Stockwerken verschluckt. Die Geräusche der abwärtsfahrenden Aufzugkabine kamen ihm vor wie das befriedigte Grunzen eines gesättigten Ungeheuers, das seine Tochter verschlungen hatte.
23 UHR 30 – NEW YORK – ST. LUKE’S ROOSEVELT HOSPITAL CENTER
Kyle Retner kniff betreten die Augen zusammen. »Es tut mir leid, Mister Pollack …«
Wie oft am Tag mochte er diese abgedroschene Floskel von sich geben? Wie oft pro Stunde? Immer mit einer etwas geänderten Anrede »Mr. X, Mrs. Y, Miss Z … und so weiter … Bedaure aufrichtig …« Ob er dabei überhaupt noch etwas empfand? Oder sagte er das so gedankenlos wie »guten Tag« oder »auf Wiedersehen?« War das die Voraussetzung für sein eigenes Überleben: ja nicht zu viel von sich selbst in diese Worte legen? Mitgefühl auf Autopilot, Empfindungen durch den Tempomaten gedrosselt. Sein Herz geriet nicht ins Rasen. Keine Gefühle, keine Anteilnahme.
Der leblose Körper war hinter breiten Türen verschwunden und nicht zurückgekehrt. Wer weiß, was aus der kleinen rosa Haftnotiz an ihrem Oberkörper würde und aus dem Treffen? Weiße Leuchtstoffröhren, ein grauer Linoleumboden, grüne Arzt- und Schwesternkittel, daran würde sich Sam, dank seinem übereifrigen Gedächtnis, stets erinnern, das würde er nie vergessen. Das Gesicht seiner Tochter würde allmählich verblassen, aber diese Einzelheiten würden bleiben. Auf alle Zeiten, wie in einem Bilderrahmen.
Doch Retner war kein Mann, der sich von vornherein geschlagen gab. Das hatte Sam gemerkt, als er ihm an Liz’ Krankenlager begegnet war. Der Arzt würde erst aufgeben und einen Patienten für tot erklären, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft waren. An diese Gewissheit klammerte er sich: Es gab keinen fähigeren Menschen als diesen Chefarzt der Kardiologie.
Sonderbar, wie einen das Aussehen anderer Leute dazu verleiten konnte, sie zu beurteilen – im Guten wie im Schlechten. Es war kindisch. Da Retner eine gewisse
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