Todesläufer: Thriller (German Edition)
nach weiteren Phantomen ab. Nicht einmal der inzwischen am früheren Standort des World Trade Center errichtete Turm mit der Bezeichnung 1 WTC , der nach seiner Fertigstellung mit einer Höhe von fünfhunderteinundvierzig Metern der Stolz der Nation sein würde, wäre je imstande, ihr Fehlen auszugleichen.
Sam klappte sein uraltes schwarzes Nokia zu – er war kein Mensch, der jede Mode mitmachte und sich immer das neueste Modell zulegen musste – und entfernte sich vom Eingang der U-Bahn-Station.
Ein Hinweis auf die Altersschwäche seines Telefons würde genügen, dem Vorgesetzten zu erklären, warum er der Aufforderung nicht nachkam.
Beim vierhundertsiebenundfünfzigsten Schritt, auf Höhe des Kiosks in der Vorhalle, spürte John ein heftiges Stechen in der Brust. Er schwankte ein- oder zweimal, bevor er, eine Hand fest auf das Brustbein gedrückt, seinen Weg fortsetzte und weiterzählte. Keine Menschenseele blieb stehen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Typisch Manhattan. Am frühen Morgen haben es alle so eilig, dass man mitten auf der Straße seinen blanken Hintern zeigen oder tot umfallen könnte …
Es war fast halb neun. Die ganze Stadt war bereits vollauf damit beschäftigt, die Nation noch ein wenig reicher zu machen und dabei auch selbst nicht zu kurz zu kommen. Sogar am Sonntag.
Um auf andere Gedanken zu kommen, öffnete John den tückischen braunen Umschlag. Er enthielt lediglich zwei Blätter. Auf der Vorderseite des ersten stand eine Mitteilung von höchstens zwanzig Zeilen. Das zweite zeigte etwas, das mit seinen Pfeilen und Skizzen aussah wie eine Montageanleitung. Doch John konnte nichts damit anfangen, sosehr er das Blatt auch drehte und wendete.
Ohne stehen zu bleiben, überflog er die Mitteilung auf dem ersten Blatt und sah sich anschließend mehrfach nach allen Seiten um. Was auch immer in diesem Schreiben stehen mochte, er glaubte offensichtlich kein einziges Wort.
Sam strebte über die Seventh Avenue südwärts. Selbst zur Stoßzeit brauchte er zu Fuß höchstens eine Viertelstunde bis zum Revier in der 10. Straße. Seinem Revier. Mitten in Greenwich Village, nicht weit vom Washington Square mit seinen vom Filmregisseur Larry Clark in den neunziger Jahren unsterblich gemachten drogensüchtigen, minderjährigen Skatern.
Zumindest würde ihm Kovic nicht vorwerfen können, er läge auf der faulen Haut. Sam war klar, dass ihn das Tagesgeschäft mit Beschlag belegen würde, sobald er einen Fuß auf den abgetretenen Fliesenboden der Dienststelle gesetzt hätte: Diebstähle, Vergewaltigungen, Raubüberfälle und Schlägereien in den zahllosen Kneipen von Greenwich Village … Was aber, wenn die Sache am Kennedy-Flughafen schlimmer wurde? Würde man ihm auch diesmal wieder vorhalten, dass er auf die Order nicht reagiert hatte?
Das unpassend muntere Klingeln seines Telefons ertönte. »Boromir« las er auf der grauen, von zahllosen Kratzern fast undurchsichtigen Anzeige.
»Ja, Chef?«
»Ich weiß, dass du auf dem Weg ins ›Haus‹ bist, Pollack. Hör mit dem Theater auf und schwing deinen Hintern hierher.«
»Donnerwetter, Chef … wie machst du das nur?«
»Ach, hab ich dir das noch nie gesagt? Die NSA hat mir bei meiner Geburt eine Antenne eingepflanzt!«
Der sechste Sinn seines Vorgesetzten machte Sam fassungslos. Jetzt hatte er keine Wahl mehr: Er musste unverzüglich zurück zu dem vier- oder fünfhundert Meter entfernten stinkenden U-Bahn-Eingang.
Der hundertdreiundzwanzigste und hundertvierundzwanzigste Schritt waren die ersten, die John auf der Treppe in die Tiefe führten. Eine gute Minute lang schüttelte er ungläubig den Kopf.
Den braunen Umschlag mit der unerwarteten Mitteilung zwischen zwei Lagen Zeitungspapier unter den linken Arm geklemmt, versuchte er mit zittrigen Fingern eine Nummer zu wählen.
Geh ran … verdammt noch mal, geh schon ran!
Vor den automatischen Türen in der Schalterhalle gab er den Versuch mit einem wütenden Druck auf die Ausschalttaste auf. Dann wählte er eine andere Nummer, eine, die jeder Amerikaner schon im Alter von zwei oder drei Jahren lernt (»Sprich mir nach, Johnny-Schätzchen«): die Notrufnummer 911. Dort wurde nahezu sofort abgenommen.
»911, guten Tag. Bitte legen Sie nicht auf. Der nächste freie Mitarbeiter wird Ihren Anruf gleich entgegennehmen.«
Wieso waren die am frühen Morgen schon so überlastet? Noch dazu an einem Sonntag? Sicher überschwemmten rücksichtslose Idioten die Notrufnummer gleich nach dem
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