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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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was er je denken würde. Er hoffte es nicht und bemühte sich um andere Vorstellungen.
    Sporadisch wurden Warnungen erteilt. Die Soldaten auf dem Panzerfahrzeug waren wieder auf ihren Posten; derjenige, den Parker erschossen hatte, war unauffällig ersetzt worden. Die Menge jubelte eintönig. Garraty fragte sich, wie es wohl sein würde, in dieser staubigsten, größten Stille von allen zu liegen, hinter geschlossenen Augenlidern endlose, gedankenlose Träume zu träumen und für immer in seinen Sonntagsanzug gekleidet zu sein. Keine Sorgen um das Geld, den Erfolg, Angst, Freude, Schmerz, Trauer, Sex und Liebe mehr zu haben. Absolut nichts mehr. Keinen Vater, keine Mutter, keine Freundin, keine Geliebte. Tote waren Waisen. Keine Gesellschaft außer der Stille, dieser dem Flügelschlag einer Motte gleichenden Stille. Das Ende dieser Qualen, sich bewegen zu müssen, das Ende dieses endlosen Alptraums, immer weiter die Straßen entlanglaufen zu müssen. Die vollkommene Dunkelheit des Todes. Wie würde das sein? Ich möchte bloß wissen, wie das sein wird.
    Und plötzlich waren die durchdringenden Schmerzen in seinen Muskeln, der Schweiß, der ihm über das Gesicht rann, ja selbst die Trauer um seine Freunde vollkommen real. Garraty bemühte sich stärker. Er kämpfte sich den Berg hinauf und mußte auf dem Abstieg ununterbrochen nach Luft schnappen.
    Um 11.40 Uhr schied Wyman aus. Garraty hatte ihn schon total vergessen, aber er hatte auch während der letzten vierundzwanzig Stunden kein Wort gesagt oder sich sonstwie bemerkbar gemacht. Sein Tod war nicht spektakulär. Er legte sich einfach auf die Straße und wurde erschossen. Jemand flüsterte leise, das wäre Wyman. Und jemand anderes fragte ebenso flüsternd, Nummer dreiundachtzig, nicht wahr? Und das war alles.
    Um Mitternacht hatten sie nur noch acht Meilen bis zur Grenze nach New Hampshire. Sie kamen an einem Autokino vorbei, einem riesigen, hellen Rechteck in der Finsternis. Auf der Leinwand stand in großen Leuchtbuchstaben: DIE DIREKTION DIESES THEATERS GRÜSST DIE DIESJÄHRIGEN GEHER! Um zwanzig nach zwölf fing es wieder an zu regnen, und Abraham begann zu husten. Es war derselbe röchelnd nasse Husten, den Scramm kurz vor seiner Erschießung gehabt hatte. Um ein Uhr regnete es in Strömen. Garraty spürte stechende Schmerzen in seinen Augen, und sein Körper litt an einem ständigen Schüttelfrost. Der Wind blies ihnen kalt in den Rücken.
    Um Viertel nach eins versuchte Bobby Sledge, sich klammheimlich unter dem Schutz der Dunkelheit in die Menge abzusetzen. Er wurde anstandslos erschossen. Garraty fragte sich, ob es der blonde Soldat gewesen war, der ihn selbst fast erledigt hätte. Er wußte, daß er im Augenblick Dienst hatte; er hatte seinen blonden Schöpf im dämmrigen Licht der Kinoleinwand erkannt. Und er wünschte sich von ganzem Herzen, daß er derjenige gewesen wäre, den Parker ausgeschaltet hatte.
    Um zwanzig vor zwei fiel Baker hin und schlug sich den Kopf auf dem Asphalt auf. Ohne darüber nachzudenken, startete Garraty in seine Richtung. Eine Hand, immer noch stark, umklammerte seinen Arm. Es war McVries. Natürlich, wer sonst?
    »Nein«, sagte er. »Keine Musketiere mehr. Und jetzt gilfs.«
    Sie gingen weiter, ohne sich noch einmal umzublicken.
    Baker erhielt seine drei Verwarnungen, und danach dehnte sich die Stille endlos aus. Garraty wartete auf das Donnern der Gewehre, und als es ausblieb, blickte er auf die Uhr. Über vier Minuten waren vergangen. Kurz darauf marschierte Baker an ihm und McVries vorbei, ohne sie anzusehen. Er hatte eine häßliche, blutende Wunde an der Stirn, aber seine Augen waren wieder klarer. Der leere, verschwommene Blick war aus ihnen verschwunden.
    Kurz vor zwei schritten sie über die New-Hampshire-Grenze und mitten in das größte Getöse hinein, das sie bisher erlebt hatten. Kanonen ballerten los. Feuerwerkskörper Schossen in den Himmel und erhellten die Nacht, soweit das Auge sehen konnte, mit ihrem verrückt flirrenden Licht. Wetteifernde Blaskapellen spielten martialische Märsche. Das Jubeln der Menge war wie Donner. Eine große Feuersäule über ihren Köpfen zeichnete das Gesicht des Majors nach, und Garraty mußte plötzlich an Gott denken. Danach erschien das Gesicht des Gouverneurs von New Hampshire, der dadurch berühmt geworden war, daß er 1953 fast einhändig die deutsche Nuklearbase in Santiago eingenommen hatte. Dabei hatte er durch Atomverstrahlung ein Bein verloren.
    Garraty döste wieder

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