Todesmarsch
schüttelte den Kopf. Er setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Straße. Wie ein alter, weltmüder Mönch saß er da. Die weiße Narbe auf seiner Wange leuchtete in der verregneten Dämmerung.
»Nein!« schrie Garraty.
Er versuchte, McVries hochzuzerren, aber so mager er auch war, er war immer noch viel zu schwer für ihn. McVries sah ihn nicht einmal mehr an. Er hatte die Augen geschlossen. Und plötzlich rissen zwei Soldaten Garraty weg. Sie legten McVries die Gewehrläufe an die Schläfen.
»Nein!« schrie Garraty wieder. »Mich! Mich! Erschießt lieber mich!«
Statt dessen gaben sie ihm eine dritte Warnung.
McVries öffnete noch einmal die Augen und lächelte. Im nächsten Augenblick war er tot.
Garraty ging, ohne zu wissen, was er tat. Ausdruckslos starrte er Stebbins an, der ihn neugierig beobachtete. Eine brüllende, brennende Leere erfüllte ihn.
»Erzähl die Geschichte zu Ende«, forderte Stebbins ihn auf. »Erzähl die Geschichte zu Ende, Garraty.«
»Nein«, antwortete Garraty. »Ich habe keine Lust mehr.«
»Na gut, dann nicht«, sagte Stebbins und lächelte siegesgewiß. »Wenn es so etwas wie Seelen gibt, dann ist er sicher noch nahe. Du könntest ihn einholen.«
Garraty sah Stebbins ins Gesicht und sagte: »Ich werde dich in Grund und Boden stampfen.«
Oh, Pete, dachte er. Er hatte keine Tränen mehr.
»So so«, sagte Stebbins. »Das werden wir ja sehen.«
Gegen acht Uhr abends liefen sie durch Danvers, und Garraty wußte, daß es nun fast vorbei war. Stebbins war nicht zu besiegen.
Ich.habe zuviel Zeit damit verschwendet, darüber nachzudenken. McVries, Abraham, Baker... Sie haben nicht erst lange nachgedacht, sondern es einfach getan. Als ob es das Natürliche wäre. Und es ist natürlich. In gewisser Weise ist es das Natürlichste der Welt.
Er schlurfte die Straße entlang. Die Augen traten aus den Höhlen, der Mund hing offen, der Regen spritzte hinein.Ei- nen vernebelten, undeutlichen Augenblick lang dachte er, er hätte jemanden auf der Straße gesehen, den er kannte. Den er ebenso gut kannte wie sich selbst. Eine weinende, bettelnde Gestalt da vorn in der Dunkelheit. Aber es hatte ja alles keinen Sinn. Er konnte nicht weitergehen.
Er würde es einfach Stebbins sagen. Stebbins humpelte ihm ein kleines Stück voraus. Er war jetzt völlig ausgezehrt. Garraty war sehr müde, aber er hatte keine Angst mehr. Er war ganz ruhig. Alles war in Ordnung. Er zwang sich, noch ein paar Schritte schneller zu gehen, bis er Stebbins die Hand auf die Schulter legen konnte. »Stebbins«, sagte er.
Stebbins hob langsam den Kopf und blickte ihn mit großen, verschwommenen Augen an, die im Augenblick gar nichts sahen. Langsam kam die Erkenntnis. Er streckte die Hand nach ihm aus und klammerte sich an seinem Hemd fest. Er riß den Stoff auf. Die Menge schrie ihre Wut über dieses Eingreifen hinaus, aber Garraty war der einzige, der nahe genug war, um zu sehen, wie tief die Dunkelheit und das Entsetzen Stebbins Blick ausfüllten. Nur Garraty wußte, daß die Hand, die Stebbins nach ihm ausgestreckt hatte, nach Rettung suchte.
»Oh, Garraty!« rief er und fiel zu Boden.
Der Lärm der Menge hatte die Dimension eines Weltuntergangs. Es war das Krachen einstürzender Berge, das Tosen eines die ganze Welt erfassenden Erdbebens. Garraty hätte leicht darunter zusammenbrechen können. Es hätte ihn getötet, wenn er es gehört hätte. Aber er hörte nur seine eigene Stimme.
»Stebbins?« fragte er neugierig. Er beugte sich hinunter und schaffte es, Stebbins' Körper umzudrehen. Stebbins starrte ihn mit leeren Augen an, aus denen die Verzweiflung schon verschwunden war. Sein Kopf rollte willenlos auf seinem Hals.
Er legte Stebbins die hohle Hand vor den Mund. »Stebbins?« sagte er nochmals.
Stebbins war tot.
Er verlor das Interesse an ihm. Er richtete sich auf und ging weiter. Der Jubel der Menge erfüllte jetzt die Erde. Feuer- werkskörper füllten den Himmel. Von vorn kam ein Jeep auf ihn zugerast.
Keine Autos auf der Straße, ihr verdammten Idioten! Das ist ein Kapitalverbrechen. Dafür könnt ihr erschossen werden.
Im Jeep stand in steifer Haltung der Major. Er hielt die Hand grüßend an der Mütze. Bereit, ihm den ersten Wunsch, jeden Wunsch zu erfüllen. Den Todeswunsch. Der Preis.
Hinter ihm erschossen sie den toten Stebbins, und jetzt war er nur noch allein auf der Straße, der einzige, der letzte Geher, der sich auf den Jeep des Majors zubewegte, welcher quer auf der Straße
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