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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Baker, der am Rand der Menge entlanghumpelte und benommen in dieses Massengesicht glotzte.
    »Waä willst du nun genau wissen? Warum ich hier bin oder warum ich gehe?«
    »Ich will alles wissen«, antwortete Garraty, und das war nur zu wahr.
    »Ich bin das Kaninchen«, erklärte Stebbins. Der Regen fiel gleichmäßig, tropfte von ihren Nasen und hing wie kleine Diamanten an ihren Ohrläppchen. Weiter vorn ging ein barfuß laufender Junge, dessen Füße ein blaues Netzwerk von zerplatzten Adern preisgaben, in die Knie und kroch mit dem Kopf auf den Asphalt schlagend die Straße entlang. Er versuchte ein paarmal aufzustehen, fiel immer wieder hin und schaffte es schließlich. Das ist ja Pastor, dachte Garraty erstaunt. Daß er immer noch da ist? Der Junge marschierte tapfer weiter.
    »Ich bin das Kaninchen«, wiederholte Stebbins. »Du hast sie sicher schon gesehen, Garraty, diese kleinen, mechanischen Tierchen, denen die Windhunde bei den Hunderennen hinterherjagen. Egal, wie sehr die Hunde sich bemühen, sie können es niemals ganz einholen, denn es ist ja nicht aus Fleisch und Blut, so wie sie es sind. Das Kaninchen ist bloß ein Stück Pappe, mit ein paar Drähten und Zahnrädern. Früher, in England, hat man dazu echte Kaninchen hergenommen, aber die wurden manchmal von den Hunden gefangen. Auf die Technik kann man sich besser verlassen.
    Er hat mich reingelegt.«
    Stebbins starrte mit seinen blaßblauen Augen in den Regen.
    »Vielleicht könnte man sogar sagen, er hat mich verzaubert. Er hat mich in ein Kaninchen verwandelt. Erinnert ihr euch an das Kaninchen in Alice im Wunderland? Vielleicht hast du recht, Garraty. Vielleicht ist es jetzt Zeit, mit dem Kaninchenspielen und Schweinegrunzen und dem schafsäugigen Glotzen aufzuhören und endlich Mensch zu werden - auch wenn wir nie eine bessere Klasse als die der Zuhälter und der Pervertierten in den Theaterlogen der 42sten Straße erreichen werden.« Stebbins Augen weiteten sich schadenfroh, und jetzt sah er Garraty und McVries direkt an. Die beiden zuckten unter seinem Blick zusammen. Stebbins war wahnsinnig. In diesem Augenblick gab es keinen Zweifel daran, daß er total durchgedreht war.
    Sein leiser Ton steigerte sich plötzlich zu einem lauten Ausbruch.
    »Dir wollt wissen, warum ich so viel über den Marsch weiß? Ich weiß alles darüber! Das sollte ich wohl auch! Der Major ist mein Vater, Garraty! Er ist mein Vater!«
    Die Menge hüb plötzlich zu einem unsinnigen, tosenden Jubel an, als ob sie Stebbins' Bekenntnis gehört hätte. Das war natürlich unmöglich. Die Gewehre gingen los, und das war der Grund für ihre Begeisterung. Sie donnerten los, und Pastor rollte tot an den Straßenrand.
    Garraty spürte ein Kribbeln in seinem Bauch.
    »Oh, mein Gott«, sagte McVries. »Das kann doch nicht wahr sein.« Er leckte sich nervös über die aufgesprungenen Lippen.
    »Es ist wahr«, antwortete Stebbins beinahe nachsichtig. »Ich bin sein Bastard. Seht ihr, ich habe geglaubt, er wüßte es nicht. Ich habe wirklich geglaubt, er wüßte nicht, daß ich sein Sohn bin. Und das war mein Fehler. Das ist schon so ein alter Hurenbock, der Major. Soweit ich weiß, hat er ein Dutzend solcher kleiner Bastarde. Ich wollte ihn damit konfrontieren -wollte die Welt damit konfrontieren. Überraschung, große Überraschung! Und wenn ich den Preis gewonnen hätte, hätte ich darum gebeten, endlich in das Haus meines Vaters aufgenommen zu werden.«
    »Aber er hat alles gewußt?« füsterte McVries.
    »Er hat mich zu seinem Kaninchen gemacht. Das kleine graue Kaninchen, das die Hunde schneller rennen läßt- und weiter. Und es hat wohl auch geklappt. Wir kommen immerhin bis nach Massachusetts.«
    »Und was nun?« fragte Garraty.
    Stebbins zuckte die Achseln. »Jetzt stellt sich am Ende doch heraus, daß dieses Kaninchen aus Fleisch und Blut ist. Ich gehe. Ich rede. Und wenn das hier nicht bald aufhört, werde ich wohl noch wie ein Reptil auf dem Bauch kriechen.«
    Sie kamen unter einer Hochspannungsleitung durch. Ein paar Männer waren mit Steigeisen auf die Masten geklettert, um sich über die Menge zu erheben. Sie wirkten wie groteske Gottesanbeterinnen.
    »Wie spät ist es?« fragte Stebbins. Sein Gesicht sah aus, als ob es im Regen geschmolzen wäre. Es war Olsons Gesicht, Abrahams, Barkovitchs - schlimm genug, Garratys eigenes Gesicht, hoffnungslos abgemagert, eingesunken und verschrumpelt, das Gesicht einer Vogelscheuche, die auf einem längst abgemähten Feld vergessen

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