Todesmelodie: Ein neuer Fall für Julia Durant (Knaur TB) (German Edition)
war nicht belegt, und Hellmer hatte sich zwischen diesem Bett und dem Fenster postiert und blinzelte schweigend durch die Schlitze der Jalousien. Sie hatten auf der Herfahrt entschieden, dass Julia als weibliche Beamtin die erste Befragung durchführen sollte. Sanft hatte sie die Hand auf den Unterarm von Adriana Riva gelegt, einige Zentimeter unterhalb des Butterfly, wie man umgangssprachlich die Flügelkanüle bezeichnete, die in der Vene steckte. Eine kurze Erinnerung huschte an Julias geistigem Auge vorbei. Vier Tage lang hatte sie im vergangenen Sommer die Infusionsflaschen beobachtet, die sich in ihren Arm entleerten. Eine nach der anderen, Tropfen für Tropfen.
»Ich weiß, Sie stehen unter Schock«, setzte sie an und beugte sich etwas nach vorne, um möglichst leise sprechen zu können. Mit leerem Blick starrte Adriana Riva zurück, zeigte ansonsten aber keine Reaktion.
»Hören Sie. Wir werden Sie so wenig wie möglich beanspruchen, Ehrenwort. Aber Sie müssen mir sagen, was gestern Abend geschehen ist.«
Adriana atmete etwas schneller.
»Frau Riva, möchten Sie mir etwas mitteilen?« Durant zog dabei unwillkürlich ihre Hand zusammen, die immer noch auf Rivas Unterarm lag. Sofort stieß das Mädchen einen spitzen Schrei aus und schlug panisch um sich.
»Smamma! Sparisci!« Sie begann zu hyperventilieren, und plötzlich schoss ihr Farbe ins Gesicht. Die heftige Reaktion kam für Julia völlig unerwartet, sie sprang auf, taumelte und stieß mit einem lauten Scheppern an das verchromte Metallgerüst mit dem Tropf.
Mit drei großen Schritten eilte Hellmer herbei.
»Hol eine Schwester!«, keuchte Durant, die sich wieder gefangen hatte. Wortlos stieß Hellmer die Tür zum Gang auf.
»Eine Schwester, schnell!«
Die Italienerin begann zu wimmern und gab stoßweise ein Kauderwelsch in ihrer Muttersprache von sich. Dabei zitterte sie und atmete hastig. Durant meinte, mehrmals das Wort Madonna herauszuhören. Eine Schwester eilte herbei und gab ihr unwirsch zu verstehen, dass sie ihr im Weg stünde. Durant und Hellmer zogen sich ans Fenster zurück und beobachteten, wie die beleibte Frau, deren türkisfarbener Kittel an den meisten Körperstellen gefährlich spannte, Adriana Riva den Kopf streichelte und sie mit sanfter Stimme beruhigte. Erst nach einer Weile begriffen sie, dass die Schwester ein Kinderlied summte. Den wenigen Worten und dem Aussehen nach vermutete Durant, dass es sich ebenfalls um eine Italienerin oder zumindest eine Italienisch sprechende Südländerin handeln musste, und Hellmers Blick verriet ihr, dass er dieselbe Schlussfolgerung gezogen hatte. Schließlich tupfte die Schwester dem Mädchen mit einer Mullbinde die schweißnasse Stirn ab und hob danach ihren Blick in Richtung der beiden Kommissare.
»Sie sollten sich was schämen!«
Ihr Akzent war noch erkennbar, doch ihrer Aussprache nach war sie schon seit vielen Jahren in Deutschland.
»Machen Sie Ihre Arbeit und wir machen unsere«, gab Hellmer patzig zurück.
»Hey, Moment, sie hat doch recht«, sagte Durant schnell, als sie das gefährliche Aufblitzen in den Augen der Schwester erkannte. »Wir stellen Frau Riva nur noch zwei Fragen, und dann lassen wir sie sofort in Ruhe, okay?«
Widerwillig winkte die Schwester ab und schimpfte: »Sie machen doch sowieso, was Sie wollen! Aber ich hole den Dottore, wenn’s sein muss!«
»Zwei Fragen, heiliges Ehrenwort«, bekräftigte Durant.
» Bene . Aber ich bleibe im Zimmer!«
»Kein Problem.«
Erneut trat Julia Durant an das Bett, diesmal von der anderen Seite. Sie ging etwas in die Hocke und flüsterte der wieder ruhig daliegenden Riva ins Ohr. »Können Sie mir sagen, wo Helena Johnson ist?«
Schweigen. Dann, als sie die Frage bereits wiederholen wollte, bewegten sich Rivas Lippen.
»Hel …«, klang es schwach, und in den Augen spiegelte sich Angst. »Dov’è Helena?«
»Das möchte ich von Ihnen wissen«, sagte Durant. »Können Sie sich erinnern, wo Ihre Freundin Helena ist?«
»No, no, Helena …«, keuchte das Mädchen und schüttelte den Kopf.
Die Schwester trat heran und schob sich an Julia Durant vorbei.
» Due domande . Sie hatten Ihre zwei Fragen.« Wieder stimmte sie einen leisen Gesang an und tupfte Rivas Stirn ab. Über die Schulter suchte sie den Blickkontakt zu Hellmer.
»Madonna, sehen Sie nicht, wie das arme Kind leidet? Kommen Sie morgen wieder!« Ein abschließendes Brummen, bevor sie sich wieder ihrer Patientin zuwandte, ließ vermuten, dass sie ihrem
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