Todesmelodie
daß sie nicht daran verblutet war.
Ann war an einer anderen Wunde verblutet – jemand hatte ihr die Kehle durchgeschnitten. Doch Ann war nie leicht zu überrumpeln gewesen; sie mußte diesen Jemand kommen sehen haben, und es mußte jemand gewesen sein, den sie kannte. Ann hatte sich den Ring mit voller Absicht vom Finger gezogen.
»Ich mache uns ein schönes Feuer«, sagte Chad.
Den Ring, den sie bekommen hatte, lange bevor Paul in ihr Leben getreten war, vor zwei Jahren, an ihrem Geburtstag.
Sharon erkannte, daß sie die Antwort schon buchstäblich in der Hand gehalten hatte: Ann hatte den Ring auf den Absatz fallen lassen, um sie zu warnen: Chads Ring!
»Ja, tu das nur«, flüsterte Sharon.
Chad wandte sich um und entfernte sich. Sharon beobachtete ihn mit brennenden Augen, vollkommen erschüttert von ihrer Erkenntnis. Langsam schienen ihn die Schatten einzuhüllen, je weiter er ging. Sie paßten zu ihm, gehörten zu ihm, und es war kein Wunder, daß er keinen Schaden genommen hatte, als er stundenlang ohne Taschenlampe tief unter der Erde herumgeirrt war. Sein Geist war schon vorher krank gewesen, verschattet und durchdrungen von Dunkelheit.
Es war kein Zufall gewesen, daß sie die Leiche gefunden hatte – Chad hatte sie genau dorthin geführt, nachdem er ihr zuerst gezeigt hatte, wo sie versteckt gewesen war, während der Fluß abgesucht wurde.
Am Rande von Sharons Blickfeld blieb Chad plötzlich stehen. O Gott!
Ihr Ton mußte ihn alarmiert haben, ebenso wie ihre Bemerkung über den ungeheuren Zufall. Er wußte, daß sie wußte!
Langsam wandte er sich um und beobachtete sie, wie sie ihn beobachtete. Es war, als ob ihre Gehirne gleichgeschaltet seien. Er wartete darauf, daß sie handelte. Ihre Blicke flogen zu ihrem Rucksack hinüber, der ungefähr sechs Meter rechts von ihr stand. Darin befand sich das Messer, das Chad ihr gegeben hatte. Sie hatte es aus ihrem Gürtel genommen, weil es bei jedem Schritt an ihr Bein gestoßen war. Ihr Rucksack war fest verschlossen, und es würde einige Sekunden dauern, ihn zu öffnen, genau wie es einige Augenblicke dauern würde, das Messer herauszuholen, das sie ziemlich weit nach unten zwischen Rückwand und Gepäck geschoben hatte.
Ruf ihn doch! Sag irgendwas, bitte ihn, einen besonders großen Holzscheit zu suchen!
Aber Sharon konnte nicht sprechen, und wenn sie es gekonnt hätte, hätte ihre rauhe Stimme ihn genauso alarmiert, als ob sie laut das Wort »Mörder« gerufen hätte.
Er machte einen Schritt auf sie zu und blieb wieder stehen.
Heb den Arm, wink ihm, wirf ihm einen Kuß zu, egal was, nur tu irgendwas!
»Sharon?« rief er.
Sie hob den Arm und winkte schwach.
Chad tat einen Schritt, hielt inne und ging dann weiter in ihre Richtung.
Sharon sprang auf die Füße.
»Sharon?« rief er wieder und, beschleunigte seinen Schritt.
Die Spannung war unerträglich. Sharon nahm all ihren Mut zusammen und machte einen großen Satz auf ihren Rucksack zu.
Sie erreichte ihn als erste, denn ihr Weg war bedeutend kürzer.
Die Schnur war auf die gleiche einfache Weise verknotet, mit der jedes Kind in den USA seine Turnschuhe aneinanderband. Sharon ergriff beide Enden gleichzeitig und zog sie nach verschiedenen Seiten auseinander, womit sie jedoch den Knoten nur noch fester zurrte. Sharon geriet in Panik und versuchte, das Band durchzureißen, aber vergeblich – das einzige Ergebnis waren zwei brennende Linien auf ihren zitternden Fingern. Als sie aufblickte, stellte sie fest, daß Chad schon die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte.
Hör auf, an der Schnur zu ziehen, befahl sie sich selbst. Jedes Kind kann diese Art von Knoten aufmachen!
Sie versuchte sich zu konzentrieren, und tatsächlich: Der Knoten ging auf! Hastig klappte Sharon den Deckel auf und tastete im Rucksack nach ihrem Messer. Ihre Finger berührten ein Set Unterwäsche, ein T-Shirt, noch mehr Unterwäsche. Warum zum Teufel hatte sie soviel Unterwäsche mitgenommen? Sie hätte besser daran getan, eine Pistole einzustecken! Wo war dieses Messer? Konnte Chad es herausgenommen haben? Nein, unmöglich; sie hatte den Rucksack die ganze Zeit über im Blick gehabt!
Jetzt hatte er sie fast erreicht. Sharon berührte mit der Hand einen Gegenstand, der ein ledernes Messerfutteral sein konnte oder auch nicht, als die Spannung wieder unerträglich wurde. Chad war nur noch sechs Meter von ihr entfernt und kam unglaublich schnell näher, und Sharon blieb nichts anderes übrig, als ihren Rucksack fallen
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