Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
junger Mann, jedoch frühzeitig gealtert. Er drehte sich um und ließ seinen Blick durch die Wohnung schweifen, die er zum Verkauf angeboten hatte. Eine recht neue Wohnung mit hübschen, aber schlichten Möbeln, die er fast alle im selben Geschäft gekauft hatte, ohne groß zu überlegen. Die Wände waren weiß gestrichen und nahezu leer, denn die sündhaft teuren Gemälde, die seine Eltern besessen hatten, befanden sich entweder in einem Lagerraum oder bei seiner Schwester. Das Einzige, was an der Wand im Wohnzimmer hängen durfte, war eine Uhr, doch ihre Batterien waren leer, und sie zeigte immer eine Minute nach neun. Die Regale waren voller Bücher, aber es gab keine Familienfotos, überhaupt keine Fotos.
Ríkharður bekam keinen Besuch mehr, stand auch nicht mehr im Telefonverzeichnis und hatte seinen Hauptwohnsitz anderswo. Er hatte das Festnetztelefon abschalten lassen und sich eine unregistrierte Handynummer besorgt. Es rief nie jemand an, aber das war in Ordnung. Dann bekam er zumindest keine nächtlichen Anrufe von wutschnaubenden Angehörigen mehr.
Seine Frau hatte ihn verlassen, sie hatten keine Kinder. Seine Eltern waren tot – sein Vater, der schwedische Apotheker, und seine Mutter, die isländische Ärztin. Er hatte eine gute Erziehung genossen, erst in Schweden und danach in Island, dann kam die Medizin, die Arbeit im Krankenhaus. Es lief gut, bis er anfing, betrunken zur Arbeit zu kommen. Ein paar Mal kam er noch mit einem blauen Auge davon, doch dann machte er einen verhängnisvollen Fehler, der einen Patienten das Leben kostete. Seine vorherige Arbeit wurde unter die Lupe genommen, und es kam ans Licht, dass noch mehr Patienten Schaden genommen, zwei weitere sogar aufgrund von Fehlern, die auf seinen Alkoholkonsum zurückzuführen waren, gestorben waren.
Der Fall wurde öffentlich gemacht, und die Medien ließen ihn nicht in Ruhe. Er verlor seine Zulassung und wurde vor Gericht dazu verurteilt, in einigen Fällen Schadenersatz zu zahlen. Trotz alledem fehlte es ihm an nichts, denn seine Eltern waren sehr wohlhabend gewesen. Doch nun wollte er nicht länger in Reykjavík wohnen. Er verließ nur selten das Haus und genoss noch nicht einmal die Aussicht aufs Meer, hatte meistens alle Vorhänge zugezogen. Das Leben lief seinen gewohnten Gang, er wachte morgens vom Wecker auf und blieb bis mittags im Bett liegen. Mittags machte er eine Suppe warm und hörte die Nachrichten, zog ein Hemd und eine Cordhose an, blätterte in Büchern, lauschte der Radiogeschichte und legte sich dann wieder hin. Zur Kaffeezeit nahm er immer ein paar Tabletten, um schlafen zu können. Dann wachte er auf, um im Fernsehen die Abendnachrichten zu sehen und zu kochen, an vier Tagen Fisch, freitags Rinderhackfleisch, samstags Hühnchen und sonntags Lamm. So lief es, Woche für Woche, eine ständige Wiederholung. Er hatte aufgehört zu trinken, und es war leichter gewesen, als er gedacht hatte.
Normalerweise ging Ríkharður einmal in der Woche aus dem Haus. Erst ins Fischgeschäft, dann in den Supermarkt und schließlich in eine Buchhandlung. Meistens kaufte er zwei oder drei Bücher pro Woche, kam aber nie auf die Idee, eine Bücherei zu besuchen. Er wollte keine Bücher lesen, die schon viele Leute angefasst hatten.
Die vielen Bakterien
, dachte er angeekelt und machte es sich dann wieder in seiner ordentlichen Wohnung gemütlich, die seit zwei Jahren niemand außer ihm betreten hatte.
Es war nicht leicht, ihn zu erreichen, und genau so wollte er es haben.
Und es würde noch schwieriger werden, wenn er erst in den Norden aufs Land gezogen wäre.
Der heutige Tag hatte genauso angefangen wie jeder andere. Die Tageszeitungen, mittags eine Suppe und dabei die Nachrichten.
In einem Neubau in Reykjaströnd im Skagafjörður wurde die Leiche eines Mannes entdeckt.
Es war, als bliebe die Zeit stehen.
Ríkharður hielt den Suppenlöffel in der Hand, erstarrt, und blickte zum Radio, als erwarte er, dass der Nachrichtensprecher aus dem Gerät in seine Küche stieg.
Vorsichtig legte er den Löffel auf den Teller, mit leicht zittriger Hand, und ging ins Arbeitszimmer, wo der Computer stand. Ein alter Computer, den er fast nie benutzte. Es war ein paar Monate her, seit er ihn zuletzt eingeschaltet hatte. Mit Ächzen und Knacken sprang er an, doch am Ende kam Ríkharður ins Internet und fand schließlich eine Meldung mit einem Foto vom Tatort.
Eigentlich hatte er schon lange keine Gefühlsregungen mehr, war nahezu emotionslos
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