Todesnacht: Thriller (German Edition)
war es. Und sie machte keine Anstalten, sich zu Dan in den Pick-up zu setzen. Er wendete den Wagen in der engen Einfahrt in drei Zügen, wobei sie kurz von den Scheinwerfern gestreift wurde. Sie war schlank, das schulterlange, dunkle Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Außerdem sah es so aus, als hätte sie ein blaues Auge und etliche andere Prellungen im Gesicht. Der Pick-up fuhr los, die Scheinwerfer entfernten sich, sodass die junge Frau nicht mehr als Person, sondern nur noch als Schatten zu erkennen war.
Während das Motorengeräusch stetig leiser wurde, trat sie unter den Bäumen hervor, machte zehn, zwölf Schritte in Richtung Praxis und blieb dann stehen, als könnte sie sich nicht entscheiden, was sie tun sollte. Versuchte sie, Mut zu fassen, um näher zu kommen? Oder hatte sie gesehen, wie die groß gewachsene Ärztin von der Veranda aus zu ihr hinübergeschaut hatte, und sich davon abschrecken lassen? Es ließ sich beim besten Willen nicht sagen. Sie stand lediglich in der Einfahrt und musterte das hundert Jahre alte zweistöckige Haus mit den Säulen, der abblätternden gelben Fassade und den schwarzen Fensterläden, als wollte sie sich die Form und die Konstruktion genau einprägen.
In diesem Haus hatte Emily ihre Kindheit und Jugend verbracht. Vor vier Jahren war sie gemeinsam mit ihrem Mann Sam ins Washington County zurückgekehrt und hatte hier ihre Praxis eröffnet. Ein Jahr später hatten Sam und sie sich scheiden lassen, und das Haus war wieder ihr Zuhause geworden: ein hübsches, kleines Bauernhaus im Kolonialstil, ganz am Ende einer schmalen Landstraße am äußersten Rand des Örtchens Machiasport. Das Grundstück grenzte auf der einen Seite an dichten Nadelwald und auf der anderen Seite an ein Heidelbeerfeld. Das nächste Nachbarhaus lag fast fünfhundert Meter entfernt. Die wenigen Bekannten, die ihr aus dem Studium geblieben waren und die die Mühe auf sich nahmen, sie hier draußen zu besuchen, begrüßte sie immer mit den Worten: » Herzlich willkommen in der Konzernzentrale von Machiasport Family Medicine. « Der kleine Scherz sorgte jedes Mal für ein Lächeln, und dann sagten sie ihr, wie sehr sie ihre Entscheidung bewunderten, hier zu arbeiten, im ärmsten und am schlechtesten versorgten County eines der ärmsten, am schlechtesten versorgten Bundesstaaten. Manche verrieten ihr dann, dass sie gelegentlich über eine ähnliche Entscheidung nachgedacht hatten. Aber soweit sie wusste, hatte es ihr nie jemand nachgetan. Ihre Kommilitonen bestellten fruchtbarere Felder.
Emily entschied, dass es keinen Sinn hatte zu warten, bis die junge Frau sich in Bewegung setzte. Sie ging die Verandatreppe hinab und näherte sich der Besucherin, um ihre Verletzungen in Augenschein zu nehmen. Als sie näher kam, sah sie, dass die Frau höchstens einundzwanzig, zweiundzwanzig Jahre alt und – abgesehen von den Prellungen – bemerkenswert hübsch, womöglich sogar eine richtige Schönheit war, aber im Augenblick war ihr linkes Auge blau umrandet und zugeschwollen, und ihre Nase war schief, vermutlich gebrochen. Über einem Riss in ihrer Oberlippe hatte sich bereits Schorf gebildet. Emily fragte sich, welche Verletzungen sie bei der Untersuchung noch feststellen würde.
» Hallo « , sagte sie. » Ich bin Doktor Kaplan. Wie heißen Sie? «
Die junge Frau gab keine Antwort. Sie schüttelte nur den Kopf.
Emily musste wissen, mit wem sie es zu tun hatte, aber im Moment erschien es ihr wichtiger festzustellen, wie schwer die Frau verletzt war. Ihre Fragen konnte sie später noch loswerden. Sie legte ihr eine Hand auf die Schulter und schob sie mit sanftem Druck in Richtung Praxis. » Na, dann kommen Sie mal mit rein, damit wir Sie unter die Lupe nehmen können. Ach übrigens, wie sind Sie eigentlich hergekommen? Hat Sie jemand gebracht? «
» Nein. Mit dem Auto. «
» Tatsächlich? Wo haben Sie denn geparkt? «
» Unten am State Park. «
Emily wunderte sich. Der Park war mehr als eineinhalb Kilometer entfernt.
Die beiden Frauen stiegen im Dämmerlicht des Sommerabends die Verandatreppe hinauf, als sie vom Licht eines Scheinwerferpaares erfasst wurden. Sie drehten sich um. Ein Auto war die Einfahrt heraufgefahren, stieß aber bereits wieder zurück. Anscheinend hatte der Fahrer die Einfahrt nur als bequeme Wendemöglichkeit genutzt. Das war nichts Ungewöhnliches. Es passierte ständig, sobald die Leute feststellten, dass es in dieser Straße bis auf die kleine Arztpraxis nichts weiter zu sehen
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