Todesnähe
Sofa. Magozzi richtete seine Taschenlampe auf die Toten. In beiden Fällen ein sauberer Durchschuss durch die Stirn. Gezielte Schüsse. Minimale Verletzungen durch eine kleinkalibrige Waffe, wie Bully schon vermutet hatte. Und keine Spur von weiteren Waffen.
Gino streifte einen Handschuh über und hockte sich hin, um besser sehen und sie auch vorsichtig befühlen zu können. «Frisch sind die nicht gerade, aber auch noch nicht ewig alt. Was meinst du, sind das Somalis?»
«Nicht auszuschließen, nach allem, was Bully über die Mädchenhändlerbanden erzählt hat. Außerdem leben viele von denen hier im Viertel. Irgendwelche Hinweise auf die Identität?»
Gino tastete noch etwas weiter und schüttelte dann den Kopf. «Keine Brieftaschen.»
Magozzi ließ den Blick kurz durch den Raum schweifen, dann konzentrierte er sich wieder auf die Position der Leichen. «Jemand muss sie überrascht haben», sagte er. «Sie saßen auf dem Sofa, plötzlich kam jemand herein, sie sind aufgesprungen und sofort erschossen worden. Sie hatten nicht mal mehr Zeit, einen Schritt zu machen.»
Gino nickte. «Und ein sauberer Tatort. Das war gut geplant. Kaum Blut, kein Hinweis auf einen Kampf, keine Querschläger, die die Bude in Fetzen reißen.»
Magozzi betrachtete den schmutzigen Teppich, auf dem sie standen, und entdeckte ein paar funkelnde Scherben, die wie Plastik aussahen. Er zeigte sie Gino. «Wasserflasche als Schalldämpfer?»
Einen Moment lang musterte Gino die Plastikstückchen. «Wie gesagt, das war alles gut geplant. Wer immer das war, er ist mit der Absicht zu töten hergekommen.»
«Der Schütze hat sie also gekannt.»
«Ja. Wahrscheinlich doch irgendwelche Bandenstreitigkeiten.»
Magozzi wandte sich dem kleinen Tisch neben dem Sofa zu. Er lag voll mit alten Zeitungen, Plastiktassen und Papptellern mit eingetrockneten Essensresten. Dazwischen ein einigermaßen neues, auf Stand-by geschaltetes Notebook, ein Koran und ein paar unordentliche Papierstapel, beschrieben mit einer krakeligen Schrift, die nach Magozzis linguistischen Kenntnissen Chinesisch, Russisch, Arabisch oder auch Hebräisch sein konnte.
Gino blieb vor dem Tisch stehen, beugte sich vor und betrachtete einen kleinen Kalender – Massenware, wie sie von vielen Firmen als Werbegeschenk verteilt wurde. «Wir können doch davon ausgehen, dass die Typen Muslime waren, oder?»
«Ja, wahrscheinlich schon.» Magozzi trat hinter ihn. «Da liegt ja auch ein Koran. Warum?»
«Na ja, ich vermute mal, dass man bei Muslimen kein Halloween feiert. Dafür haben sie aber ganz schön viele rote Kringel um den einunddreißigsten Oktober gemalt.»
Magozzi zuckte die Achseln. «Vielleicht sollten da ja die Mädchen abgeholt werden. Oder einer hatte einen wichtigen Zahnarzttermin. Ist doch nur ein Datum, Gino.»
In der Küche fanden sie ein Messer in der Spüle. Magozzi musste an Aimee Sergeant denken, die in den letzten Sekunden vor ihrem Tod mitbekommen musste, wie man ihr die Kehle durchschnitt, nachdem sie zuvor um ihr Leben gerannt war. Ob sie hier wohl die Mordwaffe vor sich hatten?
Das übrige Haus offenbarte bei oberflächlicher Betrachtung gar nichts: mottenzerfressene Teppiche, dünne Wände ohne Bilder und zwei Matratzen ohne Bettzeug, die in einem Zimmer auf dem Boden lagen. Persönliche Gegenstände: Fehlanzeige. Das Ganze machte einen höchst provisorischen Eindruck. Schließlich schauten sie in das letzte Zimmer, wo die Mädchen gefangen gehalten worden waren, und bereuten es sofort.
Die Spurensicherung traf sehr viel schneller ein, als es nach dem Familienstreit mit den fünf Toten, dem Mord an Aimee und nun auch noch diesen beiden Leichen zu erwarten gewesen wäre. Während Gino mit der Bezirksverwaltung von Hennepin County telefonierte, um den Besitzer des Grundstücks ausfindig zu machen, führte Magozzi Jimmy Grimm durchs Haus. Er gab ihm noch ein paar Hintergrundinformationen und wies ihn auf bemerkenswerte Details hin wie das Messer im Spülbecken, die Papierstapel und den Rechner sowie das Zimmer, in dem die Mädchen eingesperrt gewesen waren. Kurze Zeit später wimmelte es im ganzen Haus von Spurensicherungsbeamten; bei Jimmy konnte man immer sicher sein, dass er seine Aufgabe gut und schnell erledigte.
Schließlich beendete auch Gino sein Telefonat. «Bei der Bezirksverwaltung wissen sie nichts davon, dass das Haus vermietet ist.»
«Und wem gehört es?»
«Das wird dir gefallen: einem pensionierten lutherischen Pfarrer, der an Alzheimer
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