Todesnähe
falls sich einmal ein solches Exemplar mit unlauteren Absichten zu ihm verirrte. Er hatte die Hölle des Krieges überstanden, sich bei der Wildschweinjagd fast aufspießen lassen und einmal sogar einen Monat allein in der Chihuahua-Wüste verbracht und von Kaktusfleisch und Klapperschlangenblut gelebt, einfach nur, weil er wissen wollte, ob er das schaffte.
An die dicht mit Nadelbäumen bewachsene Gegend hier musste er sich allerdings jedes Mal wieder neu gewöhnen – es gab einfach zu viele Fichten, und überall roch es wie die Duftbäumchen am Rückspiegel. Außerdem sah man nichts vor lauter Nadeln und Baumstämmen, und das versetzte ihn wieder zurück ins Jahr 1971 und den vietnamesischen Dschungel. Inzwischen dachte er zum Glück nicht mehr ganz so oft daran, doch die Erinnerungen waren wie ein alter Splitter, der sich noch nicht ganz durch die Haut nach draußen gearbeitet hatte.
Auf einer kleinen Lichtung blieb er vor einer gewaltigen Fichte stehen, legte den Lauf seines Jagdgewehrs an die Schulter und fixierte durch das Zielfernrohr den Mann, der ihm schon seit einiger Zeit hinterherschlich. «Ich kann dich hören, Chief», sagte er grinsend. «Und ich sehe dich auch.»
«Von wegen hören, du tauber alter Sack», kam eine Stimme zwischen den Nadelbäumen hervor.
«Und ob, so klar wie die Glocken von St. Mary am Ostersonntag, und zwar schon seit einem halben Kilometer. Wer behauptet eigentlich immer, Indianer wären so leise und verstohlen?»
«Ich hab meine Mokassins im Tipi vergessen, Chimook-Mann.»
Gleich darauf trat Chief Bellanger hinaus auf die Lichtung; die trockenen Fichtennadeln knackten melodisch unter den Sohlen seiner schweren Stiefel. Er war ein wahrer Fels von einem Mann: breiter runder Brustkorb, darüber breite Schultern, ein sonnengegerbtes braunes Gesicht, das mehr Fältchen und Furchen vorzuweisen hatte als der Fächer einer Geisha, und ein langer grau melierter Zopf, der ihm fast bis zum Hintern reichte. «Schon was zum Schießen entdeckt, Chimook?»
«Bisher nur dich.»
«Ich freu mich auch, dich zu sehen.» Der Chief lehnte sein Gewehr an einen Baumstamm und kam näher, um Claude zur Begrüßung ungelenk zu umarmen.
Das mit dem Umarmen machten sie erst neuerdings – wahrscheinlich wurden sie einfach langsam alt –, und richtig gut beherrschten sie es beide nicht. Soldaten liefen eben nicht ständig herum und umarmten sich gegenseitig. Tief drinnen waren sie immer noch Soldaten, auch wenn diese Zeit eigentlich längst hinter ihnen lag.
«Hast du schon alles auf Vordermann gebracht?», fragte Claude.
«Mach ich doch immer.»
«Allerdings.»
«Die letzten Vorräte habe ich noch hinten im Wagen oben bei der Hütte. Indianisches Fladenbrot und ein paar Flaschen von dem teuren ausländischen Sprit, den du so gern trinkst.»
Claude grinste breit. «Dann ist dein Wagen genau der richtige Ort für mich. Pfeif auf das Brot. Pack mich einfach zum Schnaps in den Laderaum.»
Die beiden Männer gingen hintereinander den schmalen Wildpfad entlang, zurück zur Jagdhütte. Den ganzen Weg über schwiegen sie. Sie hatten einander zwar durchaus viel zu sagen, doch ihre Freundschaft hatte nun einmal so begonnen, und Gewohnheiten, die einen über einen Krieg hinwegretteten, hielten ein Leben lang.
Wenn er an die Einsätze in Vietnam zurückdachte, erinnerte sich Claude vor allem an die Stille. Eine lange Reihe von Männern, die auf Pfaden, so schmal wie dieser, durch den Dschungel marschierten; schwere Gürtel, von verschwitzten Händen am Klappern gehindert, gespannte Arme, die die Sturmgewehre so fest und ruhig wie möglich hielten. Bis heute blickten der Chief und er vor jedem Schritt zu Boden, um Stolperdrähten auszuweichen, obwohl es die in den Wäldern des nördlichen Minnesota nie gegeben hatte.
Die gute Stimmung, die sich wie von selbst einstellte, sobald Claude seine Stiefel auf dieses Land setzte, ließ auch diesmal nicht lange auf sich warten. Wenn es auf Erden einen Ort gab, der ihm ebenso lieb war wie Texas, dann dieser hier, das Reservat Elbow Lake. Das Volk der Ojibwa war ihm ans Herz gewachsen mit seinen traditionellen Legenden und Weisheiten, den Geistergeschichten, den Späßen und den gutmütigen Vorurteilen dieser Menschen. Sie glaubten unerschütterlich daran, die eigene Kultur sei jeder anderen auf dieser Welt überlegen, einfach weil diese Überzeugung eine ausgesprochen wirksame Überlebenstechnik war. Und das bei einem Volk, das früher in klapprigen
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