Todesnetz: Tannenbergs zwölfter Fall (German Edition)
zerstach
er die Reifen ihres Autos. Und als auch das noch nicht half, setzte er sich nackt
auf den Küchentisch und ritzte sich blutende Spinnennetzmuster in Arme und Beine.
Daraufhin
gab sie klein bei und er durfte weiter seiner Passion frönen. Sein Vater, ein introvertierter
Bibliothekar, hielt sich bei diesen Auseinandersetzungen stets dezent im Hintergrund.
Wenn ihn seine Frau mit den Missetaten ihres Sohnes konfrontierte, schüttelte er
immer nur stumm den Kopf.
Das tat
er auch viele Jahre später, als seine Ehefrau eines Morgens ihre Koffer packte und
zu ihrer lesbischen Freundin in die Toskana zog. Aber da war er selbst schon lange
zu Hause ausgezogen – natürlich mit seinen Terrarien.
Bereits
im zarten Kindergartenalter löste er in seiner Umgebung permanent Erstaunen und
Kopfschütteln aus, zum Beispiel, wenn er sich zum Geburtstag oder zu Weihnachten
keine alterstypischen Geschenke wünschte, sondern Bildbände oder Fachbücher zum
Thema ›Spinnen‹. Im Alter von fünf Jahren brachte er sich das Lesen anhand dieser
Fachliteratur selbst bei.
Sehr verwundert
reagierten seine Eltern und Erzieher auch, als er an Fasching sämtliche Vorschläge
zur Zauberer-, Indianer- oder Cowboy-Kostümierung brüsk ablehnte und auf einer Verkleidung
als Spinne bestand.
Schon damals
war sein liebster Aufenthaltsort außerhalb seines Kinderzimmers die Universitätsbibliothek,
in die er seinen Vater in den Ferien fast jeden Tag begleiten durfte. Im Fachbereich
Biologie tauchte er in seine eigene Welt ein, zeichnete aus den Fachbüchern die
schönsten Spinnen ab, las alles über Ernährung, Fortpflanzung und Verbreitungsgebiete,
was ihm in die Finger kam. In der Mittagspause oder bei Dienstschluss musste ihn
sein Vater regelrecht zwischen den Bücherregalen hervorzerren.
Aufgrund
seines ungewöhnlichen Hobbys entwickelte er sich bereits im Kindergartenalter zum
Außenseiter. In der Grundschulzeit verstärkte sich dieses Phänomen noch einmal deutlich.
Zum einen, weil er ein gewisses Sendungsbewusstsein entwickelte und unbedingt die
Lehrer und Klassenkameraden für das Thema ›Spinnen‹ begeistern wollte. Und zum anderen,
weil sich die älteren Kinder ihm gegenüber bedeutend aggressiver gebärdeten, als
er dies aus der Kindertagesstätte gewohnt war.
Besonders
litt er unter den Mädchen. Denn im Gegensatz zu den Jungs, die ihm zwar ab und an
eine kleine Abreibung verpassten oder ihm eine zerquetschte Spinne auf seinen Tisch
legten, ihn aber ansonsten meist in Ruhe ließen, ärgerten ihn die Mädchen ständig.
Nachdem
ihm eine seiner Klassenkameradinnen den Spitznamen ›Spinner‹ gegeben hatte, riefen
sie ihm diesen Namen immer und überall hinterher. Diese Hänseleien führten dazu,
dass selbst die Lehrer und Eltern untereinander nicht seinen Vornamen, sondern seinen
Spitznamen benutzten.
Doch eines
Tages wurde es ihm zu bunt und er brachte ein ausgesprochen schönes und großes Exemplar
einer Vogelspinne mit in die Schule. Er behauptete, dass diese Riesenspinne sehr
giftig sei. Das stimmte zwar nicht, denn die Wirkung des Spinnengifts war nicht
schlimmer als die eines Wespenstiches, aber die Drohung mit dem Biss der Theraphosa
erzielte die erhoffte Wirkung: Aus Angst machten seine Peiniger seit diesem Tag
einen großen Bogen um ihn. Seinen Spitznamen hörte er in der Grundschule seitdem
nicht mehr.
Auch später
im Gymnasium behielt er seine Außenseiterrolle bei. Die Mädchen in der Klasse ärgerten
ihn zwar nicht, dafür ignorierten sie ihn meistens. Damit konnte er besser leben
als mit diesem Psychoterror in der Grundschule. In der siebten Klassenstufe änderten
die Jungs seinen Spitznamen und aus ›Spinner‹ wurde ›Spider‹, ein Name, der ihm
durchaus gefiel, schließlich hatte er einen berühmten Namensvetter: den Spider-Man.
An dieser
Schule zollte man ihm nun auch endlich jene Anerkennung, auf die er so lange hatte
warten müssen. Einer der Biologielehrer war derart von seinem fundierten Fachwissen
über die Welt der Spinnen begeistert, dass er sogar gemeinsam mit ihm Vorlesungen
an der Universität, bei Fachkongressen und Spinnenausstellungen besuchte.
Die Wertschätzung
seiner außerunterrichtlichen Leistungsbereitschaft trieb noch eine weitere, allerdings
ziemlich seltsame Blüte: Irgendwann in der sechsten Klassenstufe entdeckte seine
geltungssüchtige Mutter urplötzlich ihren Sohn, respektive die Chancen, die sich
ihr durch sein ungewöhnliches Faible boten.
In der Schule
spielte sie sich
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