Todesnetz: Tannenbergs zwölfter Fall (German Edition)
Skalpell in die Höhe. »Keine Sorge, liebe Frau Tannenberg,
dieses Messer habe ich noch nie benutzt. Das Ding habe ich nur zu Selbstverteidigungszwecken
eingesteckt.« Er bedachte Tannenberg mit einem verschwörerischen Blick. »Wie andere
Leute einen Elektroschocker.«
»Du meinst,
dieser ermordete Jogger könnte den Elektroschocker dabeigehabt haben, um sich im
Notfall damit zu verteidigen?«, warf Jacob eine neue Möglichkeit in den Ring der
Spekulationen. »Dann hat er vielleicht mit diesem Anschlag gerechnet. Du musst unbedingt
das persönliche Umfeld des Toten überprüfen.«
»Danke für
diesen extrem wertvollen Tipp«, höhnte Tannenberg. »Von alleine wäre ich da nie
draufgekommen.«
»Theoretisch
ist das schon denkbar«, mischte sich Dr. Schönthaler ein. »Aber dann hätte der Täter
seinem Opfer das Gerät abnehmen müssen. Schwer vorstellbar, wenn es eingeschaltet
ist. So ein Elektroschocker hat eine enorme Abschreckungswirkung.« Er schüttelte
den Kopf. »Nein, nein, diese Variante erscheint mir sehr unwahrscheinlich.«
»Mir auch«,
pflichtete ihm sein Freund bei.
»Sag mal,
Wolf, die Tatwaffen hat die Spusi noch immer nicht gefunden, oder?«, wollte der
Rechtsmediziner wissen.
»Nein, aber
Karl und seine Leute stellen heute noch einmal die gesamte Umgebung des Tatorts
auf den Kopf. Allerdings befürchte ich, dass der Täter Elektroschocker und Stilett
mitgenommen hat.«
In diesem
Augenblick stürmte Heiner in die elterliche Wohnküche. »Mensch, hier riecht es so
verdammt gut«, schwärmte er. »Ich hoffe, ihr habt noch etwas für eine arme, hungrige
Poetenseele übriggelassen?« Er machte eine ausladende Geste und verkündete wie ein
Theaterschauspieler: »Wohl an, ihr kulturlosen Barbaren, lauscht nun dem brandneuen
kriminalpoetischen Meisterwerk eures begnadeten Wortakrobaten.«
Margot und
der Rechtsmediziner richteten lächelnd ihre Stühle zu ihm aus, wogegen Tannenberg
die Augen verdrehte und Jacob demonstrativ in seiner Zeitung zu schmökern begann.
»Mein soeben
fertiggestelltes, nobelpreisverdächtiges Poem trägt den Titel ›Das Zisch-Gedicht‹«,
posaunte Heiner lauthals in die elterliche Wohnküche. »Wie ihr gleich feststellen
werdet, ist es bedeutend moderner gestaltet als seine Vorgänger.« Er räusperte sich,
warf sich in Pose und entließ seinen vermeintlichen lyrischen Geniestreich in die
Freiheit:
»Ein Brecher bricht
Spuckt aus die Gischt
Einbrecher bricht
Letztes Gericht«
»Reim dich oder ich fress dich«,
spottete Tannenberg.
»Vielleicht
solltest du besser Regenwürmer züchten, als diesen albernen Mist zu verzapfen«,
grummelte sein Vater.
Heiner mimte
den Beleidigten. »Wisst ihr was: Manchmal schäme ich mich richtig, dass ich mit
euch elenden Kunst- und Kulturbanausen unter einem Dach leben muss. Ihr seid …«
Weiter kam
er nicht, denn sein Bruder fiel ihm ins Wort:
»Heiner, stopp!
Welch ein Flop.
Noch so ’n Spruch –
Kieferbruch!«
»Respekt, Wolf, das reimt sich sogar«,
lobte der Pathologe und ließ grinsend sein Skalpell in der Jacke verschwinden.
3
Zufrieden betrachtete er sein Werk.
»Nach dieser
gelungenen Ouvertüre werde ich mir nun eine kleine Belohnung gönnen«, entschied
er.
Anschließend
fuhr er mit seiner alten E-Klasse-Limousine in die Kaiserslauterer Innenstadt. An
der Kreuzung zwischen Barbarossaschule und Arbeitsamt herrschte das übliche Chaos:
In jeder der vier Himmelsrichtungen wartete ein Autofahrer darauf, dass er endlich
die Kreuzung überqueren konnte.
Da hier
aber jeder vor jedem Vorfahrt hatte und außerdem ein Zebrastreifen die Lage zusätzlich
verkomplizierte, ging überhaupt nichts mehr. Hektische Anfahr- und Bremsmanöver,
böse Flüche, wüste Beschimpfungen und nervige Hupgeräusche wechselten sich ab. Erst
als einer der gestressten Autofahrer die Warnblinkanlage einschaltete, sich mitten
auf die Kreuzung stellte und als Hilfspolizist gestenreich den Verkehr regelte,
löste sich der Stau allmählich auf.
Im Kreisverkehr
am Kolpingplatz schwenkte der Mercedesfahrer in die Bruchstraße ein. Vor dem klotzigen
Gebäude der Landesversicherungsanstalt bog er in die Karpfenstraße ab, wo er auch
gleich eine Parkgelegenheit fand. Vorschriftsmäßig zog er einen Parkschein und deponierte
ihn hinter der Windschutzscheibe. Anschließend schlenderte er durch die Bismarckstraße
zum Stiftsplatz.
Das sonnige
und milde Herbstwetter hatte die Freiluftsaison der Straßencafés um mehrere
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