Todesopfer
sich zu mir. »Mein Vorgänger. Vor der Rente
fünfzehn Jahre Chefarzt. War so was wie ein Mentor für mich. Grüà ihn von mir, ja?«
Ich sah Duncan verständnislos an. »Wach auf, Tora«, knurrte er. »Er redet von Dad.«
Okay, jetzt kam ich wirklich nicht mehr mit. »Dein Vater hat doch in Edinburgh gearbeitet, hast du mir erzählt.«
Kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, hatte Duncan mir erzählt, dass sein Vater Arzt sei, Anästhesist, und natürlich hatte mich das interessiert. AuÃerdem sprach er davon, dass sein Vater während seiner Kindheit die meiste Zeit anderswo gearbeitet habe und nur an den Wochenenden nach Hause gekommen sei. Ich hatte immer gedacht, das erkläre zum Teil, weshalb Duncans Familie so war, wie sie war.
»Er ist zurückgekommen«, erwiderte Duncan. »Ungefähr zu der Zeit, als ich auf die Uni gegangen bin. Wo ist dein Auto?«
»Keine Ahnung«, erwiderte ich. In letzter Zeit war alles ziemlich schnell gegangen, und ich hatte den Ãberblick verloren.
»Vor Sergeant Tullochs Haus«, erklärte Gifford. »In Sicherheit ⦠hoffentlich.«
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Nur Minuten, nachdem Duncan losgefahren war, schlief ich ein. Ich träumte merkwürdiges, zusammenhangloses Zeug, dass ich im OP sei, ohne Patientenunterlagen oder die richtigen Instrumente. Der Patient war Duncans Vater, und das Gesicht der OP-Schwester, die mich über ihren Mundschutz hinweg unverwandt ansah, war das von Duncans Mutter Elspeth. Wir waren in einem Anatomiehörsaal, mit einem OP-Tisch in der Mitte und kreisförmigen Sitzreihen, die um uns herum immer höher aufragten. Auf jedem Platz saà jemand, den ich kannte: Dana, Andy Dunn, Stephen Renney, meine Eltern, meine drei Brüder, meine Studienfreunde, meine ehemalige Betreuerin bei den Pfadfindern. Ich brauchte nicht Sigmund Freud zu sein, um einen klassischen Angsttraum zu erkennen. Einmal fuhr ich hoch, als Duncan scharf bremste, um einem verirrten Schaf auszuweichen. Wir befanden uns nicht auf der StraÃe, die nach Hause führte.
»Wo fahren wir denn hin?«, wollte ich wissen.
»Westing«, antwortete er. Westing hieà der Wohnort seiner Familie auf Unst, wo er geboren wurde und aufwuchs.
Ich dachte kurz nach. »Wer kümmert sich um die Pferde?«
»Mary hat gesagt, sie kommt rüber.«
Ich nickte. Mary war ein Mädchen aus der Nachbarschaft, die mit Füttern und Reiten aushalf, wenn ich viel zu tun hatte. Sie kannte die Pferde gut, und diese kannten sie. Die beiden waren in guten Händen. Meine Augenlider fielen gerade wieder zu, als ich mich fragte, ob ich Duncan erzählen sollte, was die Nacht zuvor geschehen war. AuÃerdem wollte ich ihn fragen, was er über Tronal wusste.
Ich warf einen raschen Blick zu ihm hinüber. Er sah starr geradeaus, die Miene angespannt, als konzentrierte er sich mit aller Macht, obwohl er diese StraÃe gut kannte und es nicht einmal annähernd dunkel war. Allerdings fuhr er viel zu schnell. Schien kein guter Zeitpunkt für ein Gespräch zu sein. Vielleicht später. Ich schloss erneut die Augen und dämmerte weg. Auf der Fähre nach Yell wachte ich kurz auf.
»Gifford hat dich angerufen, stimmtâs?«, fragte ich. »Er hat dir von dem Einbruch gestern Nacht erzählt.«
Duncan nickte, ohne mich anzusehen. Ich fühlte mich unwohl dabei. Gifford und Duncan konnten sich nicht leiden, doch sie taten sich zusammen, um mit mir zurande zu kommen. Oder vielleicht doch nicht? Vielleicht war das intime kleine Beisammensein von Gifford und mir ja für Duncan inszeniert worden. Spielte Gifford mit uns beiden?
Es dauerte nicht lange, nach Yell hinüberzufahren, und um neun Uhr befanden wir uns auf dem letzten Abschnitt unserer Fahrt.
Obwohl ich Duncan seit sieben Jahren kannte und seit fünf Jahren mit ihm verheiratet war, konnte ich noch immer nicht sagen, dass ich seine Eltern kannte. Lange hatte ich das als seltsam empfunden, sogar als bedrückend, da ich aus einer groÃen, lauten und neugierigen Familie komme, wo kein Blatt vor den Mund genommen und viel geredet wird und Geheimnisse Mangelware sind.
Das war so geblieben, bis mir klar wurde, dass Duncan seine Eltern auch nicht sehr gut kannte und ich das nicht persönlich nehmen durfte.
Duncan ist ein Einzelkind. Eins, das relativ spät eingetrudelt war, als die Gewissheit, Kinder zu bekommen, vermutlich schon lange einem halb
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