Todesqual: Thriller
anzusehen und nicht daran zu denken, was das Fehlen eines Übergriffs im Februar bedeuten mochte. Schließlich verzog sie den Mund und beschloss, es um sechs noch einmal zu probieren, schlug die erste Seite der Mordakte auf und begann zu lesen.
Trotz der unglücklichen Umstände war sie froh, nicht im Parker Center sitzen zu müssen, und genoss die friedliche Stille ihres Zuhauses. Seit Holt tot und Rhodes ihr Gegner geworden war, hatte sie das Gefühl, dass sich die Ereignisse überstürzten. Der Fall hatte seine eigene Dynamik entwickelt. Sicher hatten sie etwas übersehen. Zu viele offene Fragen, und keine von ihnen war schriftlich festgehalten worden.
Lena las die Sektion Zeitliche Abfolge durch, verglich sie mit den Berichten der Kriminaltechnik und machte sich auf einem Block Notizen. Die unbekannte Tote hatte auf Lena wie eine Frau gewirkt, die sicher irgendwo vermisst werden würde. Warum wussten sie trotzdem noch immer nicht, wer sie war? Und weshalb hatte sich der Einbrecher in Holts Haus so unnötig tollpatschig angestellt? Sie unterstrich die letzte Frage, die ihr besonders zu schaffen machte. Und was war mit Rhodes? Er bewahrte Holts Tagebücher bei sich zu Hause auf. Manipulierte er sie etwa? Hatte er ein schreckliches, wenn auch noch unbewiesenes Motiv, sie zu bereinigen? Und warum hatte er sich nach dem goldenen Plektron ihres Bruder erkundigt? Trotz seines bemüht beiläufigen Tonfalls war Lena mittlerweile klar, dass er das Plektron aus irgendeinem Grund für wichtig hielt. Er belog sie.
Sie sah auf die Uhr. Zwei Stunden waren verflogen. Inzwischen war es dunkel geworden. Als sie aufstand, um eine Kanne Kaffee aufzusetzen, überlegte sie, wie sie – legal oder anderweitig – an diese Tagebücher herankommen konnte. Rhodes’ Freundin war zwar gestern bei ihm gewesen, doch Lena wusste, dass sie nicht dort lebte, sondern eine eigene Wohnung in der Nähe des Jachthafens hatte.
Allerdings verwarf sie den Gedanken an einen Einbruch – zumindest für heute Abend. Nachdem sie erneut vergeblich versucht hatte, die drei Frauen zu erreichen, wandte sie sich wieder der Mordakte zu. Die bohrenden Fragen ließen sie nicht los und wurden von ihrer zunehmenden Sorge um die drei Schauspielerinnen noch quälender. Lena griff nach einem Stift. Wie wählte Romeo seine Opfer im wirklichen Leben aus, wenn Charles Burells Webseite der Auslöser für seine Verbrechen war? Wenn er am liebsten in einem bestimmten Gebiet zuschlug, warum wohnte sein erstes Mordopfer dann außerhalb dieser Zone? Je länger Lena darüber nachgrübelte, desto unwahrscheinlicher erschien es ihr, dass Romeo Teresa López nicht persönlich gekannt hatte. Aus welchem Grund hatte er Burell die Genitalien abgeschnitten? War das Motiv wirklich nur eifersüchtige Raserei, oder steckte doch etwas anderes dahinter? Ein schauerliches Detail war, dass man die Geschlechtsorgane auch bei der Demontage der Abwasserrohre nicht gefunden hatte. Was hatte Romeo damit gemacht?
Lena kehrte unsanft in die Gegenwart zurück, denn das Haus erschauderte, und die Fenster klapperten, als führe gerade ein Güterzug vorbei. Ihr Blick schweifte durch den Raum. Da sich dort nichts bewegte, obwohl das Haus weiter wackelte, wusste sie, dass es kein Erdbeben war, sondern nur der Wind.
Als sie die Schiebetür öffnete und hinaustrat, schlugen ihr heftige Böen entgegen. Sie sah Gegenstände im Pool schwimmen und nahm Brandgeruch in der knochentrockenen Luft wahr. Die Fensterläden prallten gegen die Mauer. Sie hörte, wie die Palmen im Wind flatterten, ein Geräusch, als stiegen Tausende von Drachen in der Dunkelheit auf. Es war zehn Uhr abends. Die Santa Anas – die Teufelswinde – waren da. Lena spürte Staub im Mund.
Sie schaute über die Hügel zu den Lichtern im Tal. Von Westen wälzte sich eine Staubwolke heran und hüllte einen Häuserblock nach dem anderen ein, sodass die Stadt Schritt für Schritt in einem grauen Nebel versank. Als Lena einen Wagen den Hollywood Boulevard hinunter und in den Dunst hineinfahren sah, dachte sie an ihre Liste und wurde von einem unbehaglichen Gefühl ergriffen.
Genau heute vor einer Woche war Nikki Brant ermordet worden. Und Novak und sie waren in dieser Zeit nicht einen Schritt weitergekommen.
50
» W o wollen Sie mit mir hin?«, fragte Harriet.
Sie saß neben ihm auf dem Beifahrersitz. Fellows drehte sich zu ihr um. »Zum Haus eines Freundes«, sagte er, »eines sehr guten Freundes. Er ist heute nicht da. Die Aussicht
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