Todesqual: Thriller
sie wieder im Auto und beobachtete sich dabei, wie sie die Gower Street hinauffuhr, am Hollywood Boulevard links abbog und dann – die Rechtskurve aller Rechtskurven – die Vista del Mar nahm.
Ihr Bruder David war in der Vista Del Mar niedergeschossen worden. Eine einzige Kugel mitten in die Brust.
Lena ging vom Gas, bis sie beinahe Schritttempo fuhr. Links befand sich ein leerer Parkplatz, rechts eine Autowerkstatt mit einem von Stacheldraht gekrönten Maschendrahtzaun. Die Straße endete am Fuße eines kleinen Hügels an einer aufgegebenen kleinen Kapelle. Der Boden war mit gebrauchten Spritzen übersät. Der Müll unzähliger Heroindeals. Reisen zum Mond und zum Heiligen Gral.
Lena fuhr rechts ran und schaltete den Motor ab. Dann lehnte sie sich zurück und nahm den Deckel vom Kaffeebecher. Der Dampf stieg ihr ins Gesicht und wärmte Wangen und Mund, als sie den ersten Schluck trank und der starke Geschmack in ihr Bewusstsein drang. Nach einer Weile ließ sie den Blick über den Becherrand hinweg aus dem Wagen und langsam und bedächtig zur anderen Straßenseite gleiten – zu der Stelle, wo sie vor fünf Jahren die Leiche ihres Bruders gefunden hatte.
Die Stille schwappte in Wellen über sie hinweg. Eine nach der anderen, bis sie den Albtraum endlich zuließ.
Lena hatte in jener Nacht Dienst gehabt und war mit ihrem Partner auf dem Boulevard Streife gefahren, als das Funkgerät ansprang. Ein anonymer Anruf war direkt am Empfang des Reviers von Hollywood in der Wilcox Street eingegangen, ohne dass zuerst die allgemeine Notrufnummer gewählt worden wäre.
Obwohl es dunkel gewesen war, konnte Lena sich noch genau an Marke und Fabrikat des Autos erinnern. Die Vorderreifen standen auf dem Gehweg. Die Scheinwerfer waren eingeschaltet, der Motor lief. Die Fahrertür stand zwar offen, doch die Innenbeleuchtung brannte nicht, sodass Lena nichts Genaues hatte erkennen können. Sie wusste nur noch, dass die Angst sie plötzlich gepackt hatte, während sie mit ihrer Taschenlampe auf das Fahrzeug zuging. Wie ein Schlag in die Magengrube war es gewesen, als der Lichtstrahl über das Opfer glitt und ein Gesicht erschien. Ein Mensch, den sie kannte.
Kurz hatte Lena geglaubt, das Herz würde ihr stehenbleiben, und ihr Atem stockte.
Er lag zusammengekrümmt quer über dem Vordersitz. Auf den ersten Blick schien er zu schlafen, bis Lena das Loch in seiner Brust und die Blutlache bemerkte. Doch am eindringlichsten waren ihr seine Hände im Gedächtnis geblieben. Er hatte die langen, eleganten Finger zwischen die Oberschenkel geklemmt, so wie damals als kleiner Junge, wenn er Bauchweh oder die Grippe hatte. Ihr Bruder war nicht friedlich und schnell gestorben. David hatte genau gewusst, was mit ihm geschah, und offenbar Schmerzen gelitten.
Danach konnte sich Lena an kaum etwas erinnern. Dr. Bernhardt hatte es in ihren Sitzungen als retrograde Amnesie bezeichnet. Alles war wie in einem Nebel, und es würde Jahre dauern, um es zu fassen zu kriegen. Laut Dr. Bernhardt wurde retrograde Amnesie von einem traumatischen Ereignis ausgelöst und konnte drei bis vier Tage Lebenszeit einfach auslöschen. Leider war niemand dagegen gefeit. Es konnte Rettungssanitäter und Polizisten ebenso treffen wie Freunde und Angehörige des Opfers, einzig und allein abhängig davon, wie schwer der Schock und wie tragisch der Verlust gewesen war. Ein plötzlicher Stromstoß, der einen Kurzschluss im Nervensystem verursachte.
Ironie des Schicksals war, dass es ausgerechnet hier passieren musste, dachte sie. Im Schatten des Capitol Records Building, das auf der anderen Seite des Parkplatzes stand.
Lena wandte sich ab, trank einen Schluck Kaffee und öffnete das Zigarettenpäckchen. Lena und David Gamble waren ein Team gewesen. Seit ihrer Kindheit. Von Anfang an.
Ihre Mutter war kurz nach Davids Geburt verschwunden und hatte deshalb weder ihren Sohn kennengelernt noch erfahren, wie ihre Kinder sich entwickelt hatten. Ihr Vater hatte sie großgezogen. Ganz allein. In Denver. Ohne Hilfe von außen.
Obwohl sie von ihrer Mutter im Stich gelassen worden war, hatte Lena fast nur gute Erinnerungen an ihre Kindheit. Ihr Vater war Schweißer und wegen seiner Fähigkeit, auch bei starkem Wind in großer Höhe zu arbeiten, ein gefragter Mann. Fast jeder Wolkenkratzer in der Skyline von Denver, der zwischen 1976 und 1990 errichtet worden war, trug die Spuren seines Schweißgeräts. Sie wusste noch, wie ihr Vater sie eines Abends bei einem Feuerwerk in der
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